Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1915 (1915)

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„Lois, den finden wir nimmer, der 
ist tot." 
„Hast Recht, Toni, der ist tot. Ader 
seine Seele — Gott sei ihm gnädig!" 
„Lots, „gehen wir heim, es ist doch 
umsonst." 
„Dort wollen wir noch hinüber. 
Wenn wir ihn schon nicht mehr leben¬ 
dig finden, so . . . ." 
Er sprach nicht weiter. Er wollte 
von der Leiche reden. Mit der Hand 
wies er auf die Riesenschlucht, die sie 
vom Hochkogel trennte. 
Der Felsen steigt ungestüm auf wie 
zu einer langen, spitzen Zinne, um 
dann jählings ins Endlose abzu¬ 
stürzen. 
„Toni, bleib zurück, da darfst du 
nicht hin." 
Der Bub blieb zurück. 
Langsam stieg der Senne vorwärts, 
mit dem Stocke jeden Stein prüfend. 
Da hört er über sich ein Rauschen 
wie Flügelschlag. Ein Adler kreist 
aus den Lüften mit mächtigen Schwin¬ 
gen nieder in die Kluft. 
Der Schrei des Senners verscheucht 
den Adler, er wendet den Flug und 
eilt der andern Felswand zu. 
Aus der Tiefe gellt ein Ruf, eine 
menschliche Stimme. 
Der Senne springt auf: „Da unten 
ist er, da unten. Gott sei Dank." Er 
schaut zum Himmel. Er kniet sich nie¬ 
der und beugt sich vor. 
Dann ruft er hinab. Keine Ant¬ 
wort kommt zurück. Er ruft wieder, 
vergebens. — 
Franz befand sich noch immer an 
der gleichen Stelle, wie gestern. Die 
ganze Nacht hindurch, beim strömenden 
Regen, inmitten des Hochgewitters 
durfte er auch nicht ein Glied bewe¬ 
gen, sonst wäre er in die schwindelnde 
Tiefe gesunken. 
Die Kräfte nahmen von Stunde zu 
Stunde ab. In dieser Notlage konnte 
nur ein Gedanke ihm noch Hoffnung 
geben: Gott kann mich retten. 
„Vielleicht erbarmt sich meiner der 
Senn, wenn ihm der Bub von mir 
erzählt. Wohl habe ich es nicht ver¬ 
dient, daß sie mir helfen —." 
„Ob sie mich finden?" 
Er betet. Die Sonne geht auf in 
leuchtender Pracht, diese Sonne, die 
auch für ihn leuchtet. Die Lust weht 
fächelnd über ihn herein und trocknet 
seine Kleider. In der Hand hält er 
noch immer das Edelweiß. 
Da hört er einen kreischenden Ruf 
über sich, ein Schatten schwebt nieder, 
es rauschen Flügel. Es ist ein Adler 
mit riesigen Schwingen. 
Franz nimmt alle Kraft zusammen 
und ruft nach Hilfe. Der Schrei gellt 
durch die Klüfte hin. Da wendet der 
Adler den Flug und kreist über den 
gegenüberliegenden Felsenkamm zu¬ 
rück. Es müssen ihn Menschen ver¬ 
scheucht haben, die Stimme des Arbei¬ 
ters allein konnte nicht die Ursache 
sein. 
Da hört er eine Stimme, er will 
antworten, doch seine Stimme ist zu 
schwach geworden. 
Er bröckelt mit den Füßen einen 
Stein ab, daß er kollernd über die Fel¬ 
sen stürzt. Er hört wieder den Ruf, er 
kann noch nicht antworten. 
In seiner Hilflosigkeit, der Hilfe so 
nahe, betet er: 
„Maria hilf, Maria hilf!" 
Er hört nicht auf, immer wieder 
diese Worte zu sprechen. 
Da schwebt vor ihm ein Seil nieder, 
langsam, ganz langsam. Er greift nach 
demselben, er ist gerettet. 
Bleich wie eine Leiche langt er nach 
Aufwand aller Kräfte auf der Felsen¬ 
platte an. Der Senn und sein Bub 
haben ihn gerettet. Noch zittert er an 
allen Gliedern. Die Hände bluten. Das 
Seil hat tiefe Furchen in die Hände 
gegraben. Der Senner wäscht ihm die 
Wunden aus, reicht ihm Stärkung und 
spricht ihm liebevoll zu. 
„Mich hat die Himmelmutter ge¬ 
rettet", sagt Franz mit schwacher 
Stimme. 
Der Senner und der Bub tragen 
ihn abwärts zur Hütte, denn er kann
	        
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