Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1915 (1915)

Pariser Trick. 
Auf dem Boulevard Clichy schreitet 
eine junge Dame, nach der neuesten 
Mode gekleidet, einher. Die schlanke 
Dame war ohne Begleitung. Ein 
Hut, der an Umfang einem kleinen 
Wagenrad glich, saß koket auf dem klei¬ 
nen Köpfchen. Bei einer Uebersetzung 
und Straßenkreuzung kommt ihr ein 
vornehm gekleideter Kavalier entge¬ 
gen. Die junge Dame bekommt plötz¬ 
lich konvulsivische Krämpfe, sie strau¬ 
chelt, schließt die Augen und breitet die 
Arme aus, wie um Hilfe suchend, da¬ 
mit sie nicht umfalle. Der Kavalier 
bemerkt dies. Sofort springt er galant 
der Gnädigen zu Hilfe und hebt die 
süße Last in seinen ritterlichen Armen 
auf. „Was ist das, was hat das zu be¬ 
deuten, mein gnädiges Fräulein?" be¬ 
ginnt der Pariser Samaritan. „Ach, 
mon eher ami, ich wurde urplötzlich so 
unwohl — ach, meine Migräne, ach, 
hätte ich doch mein Riechfläschchen nicht 
zu Hause gelassen; hätte ich doch eau de 
Eologne bei mir." — „Mein Fräulein, 
ich erlaube mir, Sie in Ihre Wohnung 
zu führen; bitte um Ihre Visitkarte." 
— „Nicht mehr nötig, Monsieur, mir 
ist schon wieder bedeutend leichter; es 
war nur einer jener Anfälle, die mir 
in letzter Zeit mehrmals zustießen. 
Adieu, ich danke für Ihre Noblesse." 
— „Gnädiges Fräulein, ich kann, ich 
darf Sie nicht verlassen. In dem 
großen Gewühle könnte Ihnen noch 
Schlimmeres begegnen. Wie gesagt, ich 
begleite Mademoiselle in Ihre mir zu 
bezeichnende Wohnung." — „Merci, 
Monsieur, ich bin wieder vollends her¬ 
gestellt; ich begebe mich mit dem näch¬ 
sten Omnibus in meine, nicht ferne 
Wohnung. Dort werde ich der Ruhe 
pflegen, ein paar Stunden Schlaf, und 
ich bin wieder in der Lage, in die Ge¬ 
sellschaft und in das Theater zu gehen. 
Eh bien, da fährt eben ein Omnibus 
vorbei. Mein Herr, Sie werden mich 
dahin begleiten." — Der Kavalier hat 
natürlich nichts eiligeres zu tun, als 
der schönen Erkrankten und Wieder¬ 
genesenen galant den Arm zu bieten, 
ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, 
für sie selbstverständlich die Fahrkarte 
zu lösen und zum Abschied noch einen 
verbindlichen Kuß auf die feine, weiße 
Hand zu drücken. Noch eine tiefe Ver¬ 
beugung seinerseits als der Wagen ab¬ 
fuhr, noch ein graziöses Handwinken 
ihrerseits vom Fenster des Omnibus 
heraus, und — alles war vorüber. Un¬ 
serem Kavalier kam alles vor wie ein 
Märchen aus „Tausend und Einer 
Nacht". Die Ernüchterung sollte sich 
schnell einstellen. Denn auch der Kava¬ 
lier mußte nach Hause eilen. Auch er 
besteigt einen Omnibus. Doch, was 
ist das? Als der Schaffner kam, das 
Geld für die Fahrkarte einzukassieren : 
ja, wo hat denn der vornehme Kava¬ 
lier doch seine Börse? Wo ist die mit 
3000 Francs gespickte Geldtasche? Wo, 
was ist das? Er sucht, er sucht, er 
gräbt in allen Taschen — aber von 
Börse und Brieftasche keine Spur. 
Zum Glück befindet sich im Omnibus 
ein Bekannter, der unserem Kavalier 
die Karte löst. Letzterer wühlt in sei¬ 
nen Taschen. Da entdeckt er, daß selbe 
durchschnitten sind. Da geht ihm ein 
Licht auf, grell wie ein Scheinwerfer. 
Er war einer geriebenen Gaunerin 
aufgesessen. Ihre Ohnmacht war 
Schwindel. Während er sie festhielt, 
auf daß sie nicht falle, hatte sie volle 
Freiheit ihrer Arme und Hände; diese 
durchschnitten im Nu die Taschen und 
nahmen Börse und Brieftasche. Wie 
oft wird die schöne Dame schon diesen 
Trick vollzogen haben!?
	        
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