Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1914 (1914)

große Jenwang, der König der Unterwelt. 
Ein ungewöhnlich großes Auge erinnert 
daran, daß der Richter der Lebendigen 
und Toten hier urteilt über alle jene Ver¬ 
gehen und Schandtaten, deren Augenzeuge 
er gewesen. Wer gedenkt hier nicht an die 
Allwissenheit Gottes? Ein Mandarin zu 
seiner Rechten weist in dem aufgeschlage¬ 
nen Buche auf das Schuldkonto des auf 
den Knien liegenden Angeklagten, der ab¬ 
geschiedenen Seele. Zur Linken des Rich¬ 
ters hält ein Mandarin die Wage der 
Gerechtigkeit in der Hand. Mit dem 
Haken an dem einen Ende des Wagebal- 
kens spießt er den Angeklagten am Rücken 
auf und hält den Zappelnden in die Höhe. 
Aber, o weh! Die wenigen guten Werke, 
die Scheintugend auf der anderen Seite 
können den Lastern des Verstorbenen das 
Gleichgewicht nicht halten. „Er ist gewo¬ 
gen, und seine guten Werke sind zu leicht 
befunden worden." Schon stehen die 
schwarzen Teufel mit glühenden Zangen 
bereit, das Urteil zu vollstrecken. Alle Fi¬ 
guren erscheinen dezent bekleidet und grell 
bemalt. Wie über der Erde im Jamen 
die Bestrafung der Frauen durch weibliche 
Beamte vollzogen wird, so sehen wir auch 
in der Unterwelt die Koanmei, eine vor¬ 
nehm gekleidete Frau, ihres harten Am¬ 
tes walten. Vor ihr kniet ein Weib mit 
aufgelösten Haaren, das verzweifelnd die 
Hände ringt. Da steht mit traurigem An¬ 
gesichte ein Selbstmörder, den Strick uw 
den Hals. Dort heult vor Schmerz ein 
Unglücklicher, angeschmiedet an einen Fel¬ 
sen. Von der Brust abwärts ist der Leib 
aufgeschlitzt, und Herz und Leber und Ein¬ 
geweide quellen nieder zur Erde. Da 
liegt am Boden ein Mandarin, noch er¬ 
kenntlich durch Knwü und Pfauenfeder an 
seinem Hute. Schon haben die Trabanten 
des Königs der Unterwelt das Feuer un¬ 
ter der Bratpfanne zu heller Glut ange¬ 
facht, bereits haben sie ihre Krallen in 
seine Schultern hineingebohrt, um ihn 
dem Feuer zu überliefern als Strafe für 
seine grausame Wollust. — In der nächst¬ 
folgenden Abteilung sehen wir einen zer¬ 
klüfteten Felsen, aus welchem uns spitzige 
Lanzen, Messer und zweischneidige 
Schwerte entgegenstarren. Kaum hat der 
König der Unterwelt das Urteil der Ver¬ 
werfung gesprochen, und sogleich spießen 
die Diener der Gerechtigkeit unter teuf¬ 
lischem Hohngelächter den Unglücklichen 
mit dreizackigen Gabeln auf und schleu¬ 
dern ihn auf den Messerberg. Mit Schau¬ 
dern sehen wir dort die Verdammten, 
durchbohrt von Lanzen und Messern hilf¬ 
los verbluten, ohne sterben zu können. 
Hier sind zwei gehörnte Teufel beschäftigt, 
mit einer groben Säge einen Verurteilten 
vom Kopfe bis zu den Füßen durchzu¬ 
schneiden. „Zur Rechten sieht man, wie 
zur Linken, einen halben Chinesen herun- 
tersiuken." Zwei andere Teufel haben 
einen Unglücklichen in die Teuselsmühle 
gesteckt- schon haben die Mühlsteine den 
Kopf und Oberkörper zu Brei zermahlen. 
Hier reißen die Quälgeister einem Un¬ 
glücklichen die Zunge aus dem Halse her¬ 
aus, womit er so viel Unheil angerichtet 
hat. Dort stechen sie einem anderen die 
Augen aus. Ketten und Geißelruten, 
Feuer und Schwert, höllische Geister mit 
funkelnden Augen, fletschenden Zähnen 
und verzerrtem Angesicht, alles vereint 
sich, um die Hölle zu einem Ort der Qua¬ 
len zu machen, wo Heulen und Zähne¬ 
knirschen sein wird. Und das alles zur 
Strafe für die im Leben begangenen Sün¬ 
den. Jedes Verbrechen findet hier eine 
ihm entsprechende Sühne. Der Glaube 
an die Existenz der Hölle ist fest begründet 
im ganzen chinesischen Volke, welches, 
wohlgemerkt, ein Drittel der gesamten 
Menschheit ausmacht. 
Mit der genannten Wahrheit ist auf 
das innigste die gläubige Ueberzeugung 
von dem Fortleben der Seele nach dem 
leiblichen Tode verwachsen. Wir sehen 
diese Wahrheit — wenn auch durch Irr¬ 
tümer entstellt — in derselben Pagode 
veranschaulicht durch eine geheimnisvolle 
Mühle mit großem Mühlrad, aus wel¬ 
chem strahlenförmig in vier Abteilungen 
die Seelen der Verstorbenen zu neuem 
Dasein wiederkehren. Diese Mühle ist 
der Tod und das neue Leben, welches mit 
der Seelenwanderung beginnt, ist ein Ge¬ 
misch von Vorhölle und Fegefeuer. So¬ 
gleich nach dem Tode ist das besondere Ge¬ 
richt, es wird einem jeden vergolten ge^ 
mätz seinen Werken. Der Tod war nur 
die Pforte zu einem neuen Leben. Auch 
die Seele des Tugendhaften kehrt biswei¬ 
len wieder zurück auf die Erde, um noch 
an Tugend zu wachsen, jedoch ihren Ver¬ 
diensten entsprechend in viel ehrenvollerer 
und glänzenderer Stellung. Ueber dem 
Eingang zu dieser ersten Abteilung steht 
man Kronen, Oröensabzeichen und kost¬ 
bare Mandarinenkleiöer. So viele waren 
in ihrem Leben verkannt und verachtet, 
lebten in Armut und Dürftigkeit, hier in 
dieser Seelenmühle werden sie verwan¬ 
delt und kehren als Königssöhne, Fürsten 
und Minister, Gesandte, hohe Verwal- 
tungsbeawte, Gelehrte und reiche Kauf¬ 
leute auf diese Erde zurück. 
In der zweiten Abteilung erblicken 
wir jene Menschenseelen, die in ihrem vo¬ 
rigen Leben weniger treu ihre Pflichten 
erfüllt haben. Sie werden verwandelt in 
Tiger, Kamele, Pferde, Kühe, Esel, 
Schweine und Hunde. In der folgenden 
Klasse finden wir die Menschen wieder als 
Adler, Pfau;, Huhn und Krähe. Die Seelen 
der verkommensten unter den Menschen 
werden verbannt in Schildkröten (gilt als 
Schimpfname), Krebse, Käfer und Wür-
	        
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