Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1914 (1914)

Fast gleichgültig hat Oberst Kar¬ 
giew -er vorstürmenden Artillerie und 
Infanterie sekundenlang nachgeblickt. 
Dann läßt er prüfend seine Muskeln 
hintereinander spielen, fühlt hie und 
da an seine Knochen. Unverletzt! — 
Merkwürdig! Tief aufatmend wendet 
er sich seinen Regimentern zu. Aber 
sofort huscht ein schmerzliches Zucken 
über sein Gesicht. Wo sind die hin? 
Kaum der vierte Teil sammelt sich um 
den seufzenden Führer der müde das 
Kommando zum Absitzen gibt. Aber 
sein und seiner Reiter Tagewerk soll 
noch nicht vollbracht sein. 
Nicht allein die türkischen Reiter 
sind hinter den Mauern von Lüle Bur¬ 
gas verschwunden, nein, auch die bul¬ 
garische Infanterie, wild und toll 
feuernd, hat sich hinter jenen nach und 
nach in die Stadt gezogen. Und eben 
protzt die Artillerie auf, um zu folgen. 
Immer entfernter klingt das 
Feuern. Kargiew sieht auf den Wällen 
von Lüle Burgas die bulgarische 
Flagge emporsteigen und lächelt be¬ 
friedigt. Ha! Nicht vergebens war das 
blutige Opfer. Die Stadt ist genom¬ 
men. Eben will er sich seinem Adjutan¬ 
ten zuwenden, da prescht ein Melde¬ 
reiter heran. Hastig entfaltet der 
Oberst den Befehl. Ein kurzes Tippen 
an den Helm, dann, ein ebenso kurzes: 
„Danke!" zu der Ordonnanz, und: 
„Aufgesessen!" dröhnt seine tiefe 
Stimme iiber das Feld, während er sich > 
selber auf seinen müden Gaul 
schwingt. 
„Brigade marsch!" 
In kurzem Trabe folgen die Reiter 
ihrem Führer, der den Befehl erhalten 
hat, Lüle Burgas zu besetzen und nun 
die Richtung nach der Stadt einschlägt. 
Rechts und links schweift Kargiews 
Auge über das Schlachtfeld. Ueberall 
stumme Tote und stöhnende Verwun¬ 
dete, verstreute Waffen und zerstörte 
Ausrüstungsstücke, zerschossene Kano¬ 
nen und Wagen — ein trostloser An¬ 
blick. Dort, wo der Reiterkampf getobt 
hat, hänfen sich die Leichen zu Hügeln, 
dicht an den Wällen zu Bergen. 
„Schritt!" 
Dumpf donnern die Hufe der Pferde 
unter dem zerschossenen Tor. Und ge- | 
spannt blickt der Oberst vornaus. 
Alles still. Längst hat sich der Kampf 
aus der Stadt herausgezogen. Beendet 
aber kann er noch nicht sein, denn hin 
und wieder krepiert ein Geschoß mit £ 
dumpfem Krach in den Straßen. Die 
türkische Artillerie feuert also noch. 
Neugierig blickt Kargiew umher. 
Dann stutzt er plötzlich: Dicht au einem 
Häuserblock muß ein Projektil krepiert 
sein. Aufgerissenes blutiges Stein¬ 
pflaster deckt ein Haufe schauerlich zer¬ 
rissener Leichen. Zerschmetterte 
Mauern, eingedrückte Fenster und Tü¬ 
ren vervollständigen das Bild. Und da 
— da — gräßlich! In dem Winkel zwi- j: 
schen zwei Giebeln gelehnt steht noch 
aufrecht mit weggerissenem Kopf und 
schauerlich blutüberströmtem Körper 
ein Türke. Noch halb ausgestreckt sind | 
die steifen Arme, und die erstarrten ' 
Hände umklammern krampfhaft die ! 
Flinte. 
Ein leiser Schauer überrieselt den 
wetterharten Obersten. So etwas wie 
heftiger Ekel würgt in seiner Kehle, j 
Und „Galopp!" ruft er hastig seinen : 
Reitern zu. 
Sofort prasseln die Hufe aus das l 
Pflaster. Der Schall klingt eigentiim- j 
lich hohl von den leeren, zerschossenen 
Gebäuden zurück. Die Straße macht 
jetzt eine Biegung. Und während Kar¬ 
giew um die Ecke fegt, erblickt er fast 
^ unmittelbar vor sich ein kleines, tür¬ 
kisches Mägdelein, das eilig und ängst- ; 
lich über die Straße trippelt. Blitzartig 
zuckt die Gewißheit durch sein Hirn, 
daß das Kind verloren ist, daß es un¬ 
bedingt von den herandonnernden 
Hufen zermalmt werden muß. 
Visionär taucht da plötzlich die Kin¬ 
derstube in seinem friedlichen Heim vor 
ihm auf. Er sieht sein jüngstes Mäd¬ 
chen lallend mit den dicken Füßchen 
über den Teppich trippeln. Heiß glüht 
sein Herz auf: 
„Halt — halt!" 
Gellend trifft das Kommando das 
Ohr der Reiter. Gleichzeitig reißt Kar¬ 
giew seinen Hengst auf die Hinter-
	        
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