Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1914 (1914)

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Sem Tode und in längstens einer Vier¬ 
telstunde mußte für sie alles vorüber 
sein. Die Qualen des armen Kindes 
wuchsen von Sekunde zu Sekunde. 
Bald glaubte sie, draußen bewegte- sich 
etwas, die Ankunft des Erwarteten 
ankündigend, bald meinte sie, die Mut¬ 
ter habe gerufen und eilte hinüber an 
das Bett, um gleich darauf wieder ver¬ 
zweifelnd nach der anderen Seite zu 
fliehen. 
Jetzt bewegte sich die Kranke,' ihre 
Atemzüge folgten rasch aufeinander 
und kosteten immer mehr und mehr 
Anstrengung, die Pulse gingen un¬ 
regelmäßig und wurden schwächer und 
schwächer. 
In diesem Augenblicke tönte vom 
Walde her, kaum tausend Schritte von 
dem Häuschen, ein langgedehntes hei¬ 
seres Geheul. Ludmilla, in der Heide 
groß geworden, kannte diese Laute zu 
genau, nur Wölfe heulten so schauer¬ 
lich, wenn sie einem Opfer auf den Fer¬ 
sen waren. Zitternd hielt sie sich am 
Fensterrahmen — wer anders konnte 
zu dieser Zeit den Wald durchschreiten, 
als der waghalsige Paul? Starr haf¬ 
tete ihr Blick auf der halb erhellten 
Fläche vor der Hütte. 
Drüben am Waldessäume konnte 
man noch nichts erkennen, als dunkle 
Umrisse einzelner Gestalten. Aber mit 
Sekundenschnelle löste sich das Gewirr, 
jetzt sah man deutlich einen Menschen 
eiligen Schrittes daherstürmen, den 
blanken Hirschfänger in der Faust, mit 
dem er zwei gierig schnappende Wölfe 
von sich abwehrte. 
Ludmilla hatte den Geliebten so¬ 
fort erkannt, sie biß sich die Lippen 
blutig, um durch keinen Laut der Angst 
die Mutter zu erschrecken. Fiebernd 
sah sie auf den grausigen Kampf. 
Die Bestien wußten, daß der An¬ 
gegriffene diese Hütte nicht erreichen 
durfte, wenn sie ihre Beute nicht ver¬ 
lieren sollten, und wutschnaubend, mit 
geiferndem Rachen drangen sie gleich¬ 
zeitig auf den jungen Mann ein. 
Paul war stark und gewandt, doch 
schienen seine Kräfte durch den weiten 
Weg und die fürchterliche Aufregung 
erlahmt zu sein. Durch die beiden La¬ 
dungen seiner Doppelflinte hatte er sich 
schon im Walde zwei dieser entsetzlichen 
Feinde vom Halse geschafft, jetzt war 
er lediglich aus die Kraft der Arme an¬ 
gewiesen und diese drohte, ihn zu ver¬ 
lassen. Die Wölfe waren ihm auf 
Armeslänge nahegrückt, immer dump¬ 
fer wurde ihr Geheul, immer enger 
wurden die Kreise, die sie um ihn 
zogen. 
Die ganze Gruppe war nur noch 
dreihundert Schritte von der Wohnung 
entfernt, schon glaubte sich der junge 
Mann gerettet — da plötzlich sprang 
der kleinere der beiden Wölfe mit kur¬ 
zem Anlaufe nach seiner Brust. 
Ludmilla bebte. 
Aber Paul war doch auf seiner Hut 
geblieben. Blitzartig fuhr dem Angrei¬ 
fer der Hirschfänger bis ans Heft in 
den schäumenden Rachen. Röchelnd 
wand sich das Tier verendend am Bo¬ 
den und Paul war eben im Begriff, 
die Waffe wieder kampfbereit zu ma¬ 
chen, als er von rückwärts heftig zu 
Boden gerissen wurde — der zweite 
Wolf hatte diesen Augenblick benützt 
und sich auf ihn gestürzt. 
Er war verloren, wenn nicht 
fremde Hilfe kam,' in liegender Stel¬ 
lung, mit bloßen Händen mußte er 
dem Wolf erliegen, in der nächsten 
Minute schon. Das sah Ludmilla. Ver¬ 
zweifelten Entschlusses riß sie in flie¬ 
gender Hast die zweite Büchse ihres 
Verlobten von der Wand und stieß das 
Fenster auf. Sie hörte nicht das Stöh¬ 
nen der Mutter, welche entsetzt dem 
seltsamen Treiben der Tochter zusah, 
sie prüfte das Schloß des Gewehres, 
dessen Handhabung ihr als Kind der 
Heide gewohnt war. Dann legte sie 
an — ein kurzes, scharfes Zielen, ein 
Pulverblitz — ein Knall und — be¬ 
wußtlos brach Ludmilla zusammen. 
Mit dem Abfeuern des Schusses 
war die so gewaltig erkämpfte Ruhe 
von ihr gewichen. Das Gewehr ent¬ 
glitt den zitternden Händen, vor ihren 
Augen wurde es dunkel. Wen hatte 
sie getroffen? Das Untier oder ihren 
Paul? Sie hatte ein gewagtes Spiel
	        
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