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Während das Todesurteil verlesen
wird, küßt er wiederholt das Kruzifix,
kniet nieder und betet mit kräftiger
Stimme das letzte Vaterunser.
Dann steigt er allein die Stufen
zum Blutgerüste hinan.
Der Unglückliche ruft noch einmal:
„Jesus, Barmherzigkeit, sei mir ar-
men Sünder gnädig! . . .
Da fällt auch schon das Beil und
der doppelte Mord ist gesühnt! . . .
Der Geistliche betet für diese Seele ein
De Profundis! . . .
und da beide arm waren, so hatten sie
soviel Kinder als der liebe Gott wollte.
Zweiunddreitzig Jahre hindurch, jeden
Tag, den Sonntag ausgenommen, ging
er zur Fabrik und verdiente mühsam,
durch die Stärke der beiden Arme und
im Schweiße seines Angesichtes das
karge Brot seiner vielgeliebten Fa-
milie.
Allein es kamen Streik, Arbeits-
losigkeit, Elend und Krankheiten, mit
allem was drauf und dran hängt.
Trotzdem wurden der Bäcker, der
Fleischhauer, der Arzt, der Apotheker,
1/eilL Mendelssohn
berühmter Komponist
geb. am 3. Februar 1809 zuHamburg, gestorben am 4. November 1847 zu Leipzig (in Berlin begraben).
Es war ein Arbeiter. . .
Ein anständiger und würdiger
Handwerker, gleich den anderen Arbei-
tern, denen man jeden Tag beim Her-
ausgehen aus den Fabriken begegnet.
Als zwanzigjähriger Mann war er
Soldat geworden und er. hatte manchen
harten Felözug in den Kolonien mit-
gemacht.
In seinem 26. Lebensjahre ver-
mählte er sich mit einer braven und
frommen Seidenweberin von Pariot,
der Vermieter und sogar der Regie-
rungssteuereinnehmer stets bezahlt.
Aber es kam auch eine Zeit, wo der
Arm des Mannes schwächer wurde, der
Magen leerer, die Knie gebogener—
Eines Tages schüttelte der Fabriks-
arzt den Kopf, indem er sagte: „Mein
armer Durand, eure Gesundheit ist
gänzlich verdorben und zerrüttet!..."
Es war ein Vorzeichen des Endes.
Der arme Arbeiter wurde gezwungen,
die Arbeit aufzugeben und auszuruhen