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Die Brieftasche
Von Edward Stilgebauer
Meine Geschichte hat den Vorzug der Wahr
heit. Sie hat sich vor noch nicht allzulanger
Zeit eines schönen Sommerabends am Haupt
bahnhof in Genua zugetragen.
Settimo Jacopi hatte Dienst. Damals ward
ihm die Aufgabe, in der Halle nach dem Rechten
zu sehen. Als junger Mann von achtundzwanzig
Jahren bekleidete er noch keine gutbezahlte
Stelle. Und doch war er schon seit längerer
Zeit verheiratet und seine Frau erwartete das
zweite Kind. Dabei war die nun fällig gewor
dene Monatsmiete noch nicht einmal bezahlt.
Bei seiner Beschäftigung, die in der Halle
herumliegenden Papierfetzen aufzulesen, zer
brach sich also Settimo Jacopi gerade den
Kopf, wie er die hundert Lire für die Miete
aufbringen sollte, denn er verdiente hier nur
dreihundert im ganzen Monat.
Traurig schlug er die Augen nieder. Inst
vor dem Schalterranm, in dem die Inter
nationale Schlafwagengesellschaft ihre Ver
kaufsstelle aufgeschlagen hatte. Da trat sein
Fuß auf einen harten Gegenstand.
Mechanisch bückte sich Settimo Jacopi. Was
hielt er denn da in seiner Hand? Eine wohl
gefüllte Brieftasche aus feinstem.schwarzen
Glanzleder!
Der Augenblick der Versuchung war da.
Die Halle des Bahnhofs so gut wie leer! Das
Glück schien Settimo Jacopi zu lächeln.
Schon war er drauf und dran, die Leder
tasche in seinem Dienstrock verschwinden zu
lassen. Aber er war ja Beamter und hatte als
solcher einen Eid geleistet!
Gefundene Gegenstände waren unbesehen
zurückzugeben, das war nichts anderes als
übernommene Pflicht. Darum ging er jetzt auf
den Schalter der Schlafwagengesellschaft zu,
wo Signor Villave^chia arbeitete.
Und doch! Versuchung und Neugierde
waren zu groß. Nur einen Blick! Settimos
Hände zitterten. Was ihm da entgegenlachte,
war Geld, Geld, unermeßlich viel Geld —
fremde Noten, wie er seiner Lebtage noch keine
gesehen hatte!
Der Fall war klar. Ein reicher Ausländer
hatte beim Bezahlen seiner Fahr- und Bett
karten diese Brieftasche hier verloren.
Und er? Die Miete, die Frau, das Baby!
Doch schon hatte sein Finger an das
Schiebefenster Villavecchias gepocht. Der
machte gerade Tageskasse.
„Was ist denn los, Jacopi?" fragte der
Alte, nachdem er den grünen Vorhang, der
ihm die Szene bislang verhüllte, zurückge
schoben hatte.
Ein Fund. Settimo Jacopi reichte seinen
Schatz dem Alten.
Der war sofort auf dem Laufenden. Sagte
er doch:
„Die Brieftasche des Amerikaners, der
heute Schlafwagenplätze für den Pariser
Schnellzug um 10.15 Uhr belegt hat!"'
Villaverchia hatte die Brieftasche auf sein
Pult gelegt. Jetzt blätterte er in seinem Re
gister.
Und schon nach zwei Minuten hatte er das
Gesuchte gefunden.
„Es handelt sich um einen Mister Brown.
Einen Amerikaner aus Newton. Wie er mir
sagte, ist er heute morgens mit dem englischen
Dampfer ,Liverpool City' aus Alexandria an
gekommen und das Schiff liegt am Ponte
Andrea Doria vor Anker. Seine Frau und
Tochter befinden sich noch an Bord. Dorthin
hat auch er sich zurückbegeben. Kommen Sie
mit zu Bandracco. Er wird zusammen mit
uns beiden den Inhalt der gefundenen Brief
tasche feststellen."
Baudraeco, der gewissenhafte Stations
vorsteher, zog noch einen Polizeikommissär
hinzu. Und die Brieftasche enthielt:
1. Eine Fahrkarte erster Kajüte von Neu-
york nach Cherbourg, ausgestellt auf den
Namen der Familie Brown;
2. einen Scheck auf 1000 Dollar;
3. zwei Kreditbriefe, jeder über 20.000
Pfund;
4. 4000 Lire in bar;
5. 16 Pfund in englischen Noten;
6. 6000 griechische Drachmen;
7. verschiedenes Geld im Werte von
12.000 Lire.
Billavecchia zählte zusammen und rechnete
um. Er kam auf die Summe von 4,070.000
Lire. Ihn schwindelte. Er nannte diese Summe
Settimo Jacopi. Dem stand der Verstand so
zusagen still. Und alle miteinander starrten sie