Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1931 (1931)

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Die Brieftasche 
Von Edward Stilgebauer 
Meine Geschichte hat den Vorzug der Wahr 
heit. Sie hat sich vor noch nicht allzulanger 
Zeit eines schönen Sommerabends am Haupt 
bahnhof in Genua zugetragen. 
Settimo Jacopi hatte Dienst. Damals ward 
ihm die Aufgabe, in der Halle nach dem Rechten 
zu sehen. Als junger Mann von achtundzwanzig 
Jahren bekleidete er noch keine gutbezahlte 
Stelle. Und doch war er schon seit längerer 
Zeit verheiratet und seine Frau erwartete das 
zweite Kind. Dabei war die nun fällig gewor 
dene Monatsmiete noch nicht einmal bezahlt. 
Bei seiner Beschäftigung, die in der Halle 
herumliegenden Papierfetzen aufzulesen, zer 
brach sich also Settimo Jacopi gerade den 
Kopf, wie er die hundert Lire für die Miete 
aufbringen sollte, denn er verdiente hier nur 
dreihundert im ganzen Monat. 
Traurig schlug er die Augen nieder. Inst 
vor dem Schalterranm, in dem die Inter 
nationale Schlafwagengesellschaft ihre Ver 
kaufsstelle aufgeschlagen hatte. Da trat sein 
Fuß auf einen harten Gegenstand. 
Mechanisch bückte sich Settimo Jacopi. Was 
hielt er denn da in seiner Hand? Eine wohl 
gefüllte Brieftasche aus feinstem.schwarzen 
Glanzleder! 
Der Augenblick der Versuchung war da. 
Die Halle des Bahnhofs so gut wie leer! Das 
Glück schien Settimo Jacopi zu lächeln. 
Schon war er drauf und dran, die Leder 
tasche in seinem Dienstrock verschwinden zu 
lassen. Aber er war ja Beamter und hatte als 
solcher einen Eid geleistet! 
Gefundene Gegenstände waren unbesehen 
zurückzugeben, das war nichts anderes als 
übernommene Pflicht. Darum ging er jetzt auf 
den Schalter der Schlafwagengesellschaft zu, 
wo Signor Villave^chia arbeitete. 
Und doch! Versuchung und Neugierde 
waren zu groß. Nur einen Blick! Settimos 
Hände zitterten. Was ihm da entgegenlachte, 
war Geld, Geld, unermeßlich viel Geld — 
fremde Noten, wie er seiner Lebtage noch keine 
gesehen hatte! 
Der Fall war klar. Ein reicher Ausländer 
hatte beim Bezahlen seiner Fahr- und Bett 
karten diese Brieftasche hier verloren. 
Und er? Die Miete, die Frau, das Baby! 
Doch schon hatte sein Finger an das 
Schiebefenster Villavecchias gepocht. Der 
machte gerade Tageskasse. 
„Was ist denn los, Jacopi?" fragte der 
Alte, nachdem er den grünen Vorhang, der 
ihm die Szene bislang verhüllte, zurückge 
schoben hatte. 
Ein Fund. Settimo Jacopi reichte seinen 
Schatz dem Alten. 
Der war sofort auf dem Laufenden. Sagte 
er doch: 
„Die Brieftasche des Amerikaners, der 
heute Schlafwagenplätze für den Pariser 
Schnellzug um 10.15 Uhr belegt hat!"' 
Villaverchia hatte die Brieftasche auf sein 
Pult gelegt. Jetzt blätterte er in seinem Re 
gister. 
Und schon nach zwei Minuten hatte er das 
Gesuchte gefunden. 
„Es handelt sich um einen Mister Brown. 
Einen Amerikaner aus Newton. Wie er mir 
sagte, ist er heute morgens mit dem englischen 
Dampfer ,Liverpool City' aus Alexandria an 
gekommen und das Schiff liegt am Ponte 
Andrea Doria vor Anker. Seine Frau und 
Tochter befinden sich noch an Bord. Dorthin 
hat auch er sich zurückbegeben. Kommen Sie 
mit zu Bandracco. Er wird zusammen mit 
uns beiden den Inhalt der gefundenen Brief 
tasche feststellen." 
Baudraeco, der gewissenhafte Stations 
vorsteher, zog noch einen Polizeikommissär 
hinzu. Und die Brieftasche enthielt: 
1. Eine Fahrkarte erster Kajüte von Neu- 
york nach Cherbourg, ausgestellt auf den 
Namen der Familie Brown; 
2. einen Scheck auf 1000 Dollar; 
3. zwei Kreditbriefe, jeder über 20.000 
Pfund; 
4. 4000 Lire in bar; 
5. 16 Pfund in englischen Noten; 
6. 6000 griechische Drachmen; 
7. verschiedenes Geld im Werte von 
12.000 Lire. 
Billavecchia zählte zusammen und rechnete 
um. Er kam auf die Summe von 4,070.000 
Lire. Ihn schwindelte. Er nannte diese Summe 
Settimo Jacopi. Dem stand der Verstand so 
zusagen still. Und alle miteinander starrten sie
	        
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