Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1919 (1919)

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die alte Leichenbitterin? Unwillkürlich schau 
erte der kräftige Mann zusammen. 
Im Zuge dann, wo er Kameraden traf, 
überkam ihn aber plötzlich eine wilde Lustig 
keit und er sang das „Morgenrot" und „Ich 
hatt' einen Kameraden" und all die anderen 
Soldatenlieder aus voller Lungenkraft mit. 
Was anderen Angst und Schrecken bringt, 
ist dem Toni gerade recht. Das wilde Kriegs 
getümmel sagt ihm zu und er kann sich 
einmal gehörig austoben. Hin und wieder 
aber, wenn er untätig in einem der Schützen 
gräben liegt, stei 
gen Heimatbilder 
inseinemErinnern 
auf: das niedrige 
Häusel mit dem 
moosbewachsenen 
Dach, das enge 
Stüblein mit dem 
Webstuhl — seine 
zwei Kinder! Der 
blauäugige Hansl 
und in der schwer 
fälligen Wiege das 
kleine, rundeAnne- 
mariele. Grad zu 
laufen fing's an, 
als er Abschied 
genommen. 
Ob er sie wohl 
beide wiedersehen 
wird? Wo sie nun 
daheim sein mö 
gen, die armen 
Würmer? In wel 
chem Winkel mochten sie ihr Nachtlager 
haben? Ob sie sich wohl auch satt aßen? 
Vielleicht hungerten sie und es zog ihnen 
niemand ein frischgewaschenes Hemdlein an. 
Gewiß wies man sie rauh von den Türen... 
„O, diese harten, bösen Menschen!" Des 
öfteren ballt der Toni eine Faust und beißt 
sich in die Lippen, daß sie fast bluten. 
Weinen darf er ja nicht, das ist unkrie 
gerisch. Und dann regt sich immer noch 
was in ihm — das Gewissen! Daß er auch 
um der Kinder willen keinem im Dorf ein 
gutes Wort gegeben! Keinem! Wenn er nur 
sich selbst, seinen mächtigen Trotz hätt' be 
zwingen können! Er will ein Kriegsheld 
sein! Gegen die Franzosen kämpfen! „Recht 
geschieht mir, wenn sie mich totschießen, 
mehr bin ich net wert!" brummt er einmal 
zerknirscht vor sich hin. Da ruft ein Kom 
mandowort eines Vorgesetzten ihn in die 
Wirklichkeit zurück. — Die Kriegsfurie tobt 
weiter. Am 4. September zerschmettert ein 
Granatsplitter dem Toni den rechten Arm 
und verletzt ihm auch das rechte Bein. Auf 
einer 18stündigen Eisenbahnfahrt leidet er 
unsägliche Schmerzen. Endlich wird er in 
einem Lazarett untergebracht. Die Aerzte 
erklären sofort, daß der Arm amputiert 
werden müsse! Ganz teilnahmslos hört der 
Toni alles an. Es ist, als sei er gar nicht 
bei sich. Sein' Gesicht ist aber schmerz 
verzerrt und seiner Brust entringen sich 
tiefe Seufzer. Erst als die Operation längst 
vorüber, hat er wieder lichte Augenblicke. 
„Soll ich nicht an die Ihrigen schreiben?" 
fragt die Pflegeschwester. Er schüttelt ver 
neinend das Haupt. — „Ach, Sie haben wohl 
niemand mehr?" meint sie teilnahmsvoll. 
Niemand haben?! Der Toni ist zusam 
mengezuckt. Niemand haben? Er hat doch 
den Hansl und das Annemariele. Aber er 
erwähnt die Kinder nicht. Was soll denn 
diesen ein Brief nützen?! Er deckt die eine 
gesunde Hand über sein abgemagertes Ge 
Parkie aus dem Kaselgraben bei Linz.
	        
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