Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1914 (1914)

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folgenden Wochen in Teplitz war, der sah, 
wie ein vornehm gekleideter Herr einen 
Kranken täglich ins Bad fuhr, ihm dort 
hineinhalf, ihn aus- und anzog, als wäre 
es sein nächster Blutsverwandter. Das Bad 
bekam dem Kranken gut und nach fünf 
Wochen konnte der Lahme schon am Arme 
seines Freundes im Kurgarten spazieren 
gehen. Letzterer brachte ihn dann noch nach 
Hause; ihn hatte nicht das Bad allein, 
sondern auch die ihm erwiesene Liebe und 
Barmherzigkeit gesund gemacht. 
Dieses alles hatte er der kleinen Mühe 
zu verdanken, ein verlorenes Eisenbahn- 
billet einzukassieren. Diese Mühe hatte 
ihm reiche Zinsen getragen. Die Menschen 
könnten sich manches Kopfzerbrechen er 
sparen und sorgenvolle- Nächte dazu, wenn 
sie den richtigen feuer- und diebessicheren 
Eisenschrank kännten, der auf das Wörtlein 
„Liebe" gestellt ist und aufspringt, wenn 
man den Schlüssel hineinsteckt. Und den 
kann man überall mitnehmen, selbst in das 
Coupe hinein; er geniert keinen Mitmenschen. 
<B arm er fr ecf>^ ei t. 
Ein Gauner hatte bei einem Stadt 
richter kostbare Teppiche gestohlen und 
wollte sich eben mit seiner Beute aus dem 
Augsburger Deckelkrug von Meister 
Bertholm Koch. 
Phot. Pinter, Schärding. 
Staube machen, als ihm der Stadtrichter 
selbst in der Haustüre begegnete. Ohne aus 
der Fassung zu kommen, begann der listige 
Dieb sogleich mit Tränen in den Augen: 
„Mein lieber Herr, ich war bei Ihrer Frau 
Gemahlin, um diese mir gehörigen Teppiche 
um eine kleine Geldsumme zu versetzen; 
denn meine Gläubiger drängen mich gar 
zu sehr, ja, sie werden mich und meine, 
armen Kinder noch an den Bettelstab bringen, i 
Diese Teppiche sind noch das Letzte von 
Wert, was ich im Hause habe. Aber Ma-s 
dame hat mir nichts darauf geben wollen. !•■ 
Auch bot ich ihr dieselben zum Kaufe an, I 
aber sie wollte die Sachen nicht einmal[ 
sehen." Nach diesen .Worten fing der ge-1 
riebene Gauner heftig zu weinen und zu 
schluchzen an, daß es einen Stein hätte er-1 
weichen können. „Du armer Teufel", 
meinte der Stadtrichter mitleidig, „da bist 
du freilich schlimm angekommen; aber be- I 
ruhige dich nur, behalte deine Sachen; hier 
hast du sechs Taler, wenn es besser mit dir 
steht, so gib sie mir wieder. Und nun geh' ; 
mit Gott und kaufe Brot für deine Kinder." I 
Der Spitzbube ließ sich das nicht zweimal 
sagen und verschwand dankend schleunigst 
mit seiner Beute. Der Stadtrichter machte 
aber beim Eintritt in seine Behausung der 
Gattin Vorwürfe wegen ihrer Herzlosig-1 
keit gegen Arme und Bedrängte. Die ehr- ; 
same ^ Frau Stadtrichterin wußte aber be- j 
greiflicherweise nicht, wo ihr gestrenger 
Herr Gemahl hinaus wollte und meinte! 
allen Ernstes, daß es bei dem vielbeschäftigten j 
Gatten im oberen Stocke nicht mehr recht 
geheuer sei. Ein Wort gab das andere —• | 
und so blieb es denn auch nicht lange ver- ; 
borgen, daß dieser gute Tropf seinem 
Teppichdiebe noch einen tüchtigen Träger 
lohn mitgegeben hatte.
	        
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