Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1907 (1907)

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Häuschen ausmachte, eine klagende, brüchige 
Stimme vernehmen: 
„Gaston, mein Sohn, bist du's? Bist 
du schon da und hast den weiten Weg aus 
der Stadt hierher bereits zurückgelegt?" 
„Ja, Mütterchen, ich bin's!" 
„Einen Augenblick, mein Sohn! Ich 
komme sofort." 
Schlürfende Schritte ertönen. Gaslon 
öffnete die Verbindungstüre von Wohn- und 
Schlaskammer und aus 
der Schwelle der letz 
teren zeigte sich ein 
gebücktes, elend aus 
sehendes Bauernfrau 
chen ; auf einen Krück 
stock gestützt, den siechen 
Körper mit wenigen 
abgetragenen Klei 
dungsstücken bedeckt, 
humpelte Gastons 
Mutter in das Wohn- 
stübchen und bot dem 
Sohne den Morgen 
gruß. 
Gaston eilte ihr 
entgegen und half ihr 
auf den schadhaften 
Sessel neben dem Fen 
ster. — „Wie geht's, 
Mütterchen?" begann 
er in herzlichem Tone: 
„Hast du gut geschla 
fen?" 
„Wie immer, Gaston! 
Vom Gutgehen und 
Gutschlafen kann bei einer kranken, alten 
Frau. wie ich bin, nimmer die Rede sein." 
Gaston seufzte tief und schmerzlich auf. 
„Wollen wir nicht wieder einmal einen 
Arzt über deinen Zustand befragen?" meinte 
er niedergeschlagen. 
„Einen Arzt? Nein, Gaston! Du hast 
schon genug Geld für Aerzte ausgegeben, 
ohne daß diese mir Hilfe gebracht hätten. 
Und zudem haben wir auch die wenigen 
Franken, die du dir vom Munde absparst 
und mir täglich bringst zum Leben bitter 
nötig." 
Gaston nickte traurig. 
„Aber ein anderer Gedanke ist mir in 
den langen Nächten, die ich so oft ganz 
oder halb schlaflos auf meinem Lager ver 
bringen muß, gekommen." 
„Welcher denn, Mütterchen?" 
„Du weißt, ich habe ein großes Ver 
trauen auf unsre liebe Frau vom Siege, 
mein Sohn! So vielfach hört man von 
großen Huldbeweisen, welche die mächtige 
Frau an ihrer Gnadenstätte zu Paris den 
Hilfeflehenden bietet; ich meine immer, die 
gütige Himmelskönigin 
würde auch mir von 
ihrem allmächtigen 
Sohne Hilfe erbitten, 
wenn ich sie in Notre 
dame des Yictoires 
darum bäte." 
Gaston seufzte wieder. 
„Ja, ja, ich weiß, 
warum du seufzest," 
deutete die Witwe so 
fort jenen Ausbruch 
der Trauer ihres 
Sohnes. „Du denkst 
an die Unmöglichkeit, 
daß ich alte, kranke 
Frau, die ich kaum 
unser Häuschen ver 
lassen kann, zu jener 
entfernt liegenden 
Gnadenkirche der 
Mutter Gottes ge 
langen könne." 
„So ist's, liebe 
Mutter!" 
„Aber weißt du. 
Gaston, es ist mir ein Ausweg eingefallen 
bei meinem langen Nachdenken über jenen 
Besuch der Marianischen Gnadenstätte." 
„Ein Ausweg, liebe Mutter?" 
„Ja, Gaston! Die liebe Gottesmutter- 
weiß, daß ich nicht zu ihrer Kirche vom Siege 
kommen kann; da wird sie sicher deine 
Fürbitte für mich auch recht gnädig auf 
nehmen." 
„Du meinst also. ich solle nach Notre 
dame des Victoire gehen?" 
„So mein ich, lieber Sohn!" 
Gaston blickte nachdenklich zum Fenster 
hinaus, durch das soeben der junge Tag 
voll und leuchtend hereinblickte.
	        
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