Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1906 (1906)

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s ist eine wahre Geschichte, die ihren 
M Anfang nahm vor hundert Jahren, 
nämlich anno 1795 in Frankreich, 
in der Stadt Nantes. Da war ein Korporal 
der Revolutionsarmee namens Cambronne 
zum Tode verurteilt worden, weil er im 
Rausche seinen Offizier ins Gesicht geschla 
gen hatte und zwar noch zur Kriegszeit. 
Cambronne war erst zwanzig Jahre alt, 
aber ein Säufer seit Jahren. Sein Oberst, 
der ihn schätzte, weil er sonst ein talent 
voller, aufgeweckter Bursche war, wirkte 
endlich seine Begnadigung aus, aber nur 
bedingt. Das weitere geschah wie folgt: 
Der Oberst ging zu dem zum Er 
schießen Verurteilten ins Gefängnis. „Höre, 
hu hast einen großen Fehler begangen, 
sagte er zu ihm. 
„Ich weiß es, Herr Oberst; Sie sehen, 
wohin er mich gebracht. Ich werde den 
Fehler mit meinem Leben sühnen." 
„Vielleicht," erwiderte der Oberst. 
„Wie, vielleicht? Gnade habe ich keine 
zu erwarten und so bleibt mir nichts an 
deres übrig, als zu sterben." 
„Nein, mein Freund, du sollst noch 
nicht sterben, ich bringe dir die Gnade. 
Deine Strafe wird dir erlassen. Du behältst 
deinen Grad, aber unter einer Bedingung." 
„Eine Bedingung? Reden Sie, Herr 
Oberst, ich werde alles tun, mein Leben 
und meine Ehre zu retten." 
„Du sollst dich nie mehr betrinken." — 
„Aber Herr Oberst, das ist ja rein unmöglich." 
„Unmöglich, wenn man dadurch dem 
Tode entgeht? Besinne dich — morgen 
wirst du erschossen." 
Cambronne sprach: „Sehen Sie, Herr 
Oberst, wenn ich mich nicht mehr betrinken 
sollte, so dürfte ich überhaupt keinen Wein 
trinken. Denn Cambronne und die Flasche 
haben sich einander so lieb, daß kein Ende 
abzusehen ist, wenn einmal der Anfang 
gemacht worden ist. Es ist rein unmöglich, 
mitten im Trinken inne zu halten. Ich 
kann also nicht versprechen, mir keinen Haar 
beutel mehr zu holen." 
„Aber kannst du denn nicht dem Weine 
entsagen?" 
u 
I?" 
„Freilich." 
„Das ist ein schweres Ding, was Sie 
mir da vorschlagen. Keinen Wein mehr 
trinken, keinen Tropfen Wein, niemals, 
niemals mehr trinken!" Und er ließ den 
Kopf hängen. „Aber Herr Oberst," fuhr 
er nach einigen Minuten fort, „wenn ich 
nun verspreche, wer wird dafür Bürge sein, 
daß ich es halte?" 
„Dein Ehrenwort. Es bedarf keiner 
weiteren Bürgschaft. Ich weiß, daß du dein 
Wort nicht brechen wirst." 
Immer ließ der Verurteilte noch den 
Kopf hängen, ohne etwas zu erwidern. 
„Nun, Cambronne, was wählst du?" 
„Sie sind sehr gütig gegen mich, Herr 
Oberst," erwiderte Cambronne ernst. „Wohl 
an denn, ich schwöre, daß nie mehr in 
meinem Leben ein Tropfen Wein meine 
Lippen berühren wird. Sind Sie nun zu 
frieden?" 
„Vollkommen, mein Freund," entgegnete 
der Oberst. 
Am folgenden Tage kehrte der Korpo 
ral Cambronne zu seinem Korps zurück und 
trat seinen Dienst wieder an. Fünfund- 
6) Der trmnriictt russische Großfürst Sergius. (§, 
8*
	        
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