Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1905 (1905)

(U7) 
Ihnen unangemeldet dieses Kind. Wir wären 
schon heute mittags eingetroffen, doch wir 
hatten Unglück mit dem Wagen!" 
„Man sagte mir davon." 
„Und daß ich den Zögling nicht an 
meldete, das ging so zu: Bertha hatte bis 
vor einer Woche noch eine gute Mutter, 
jetzt hat sie keine mehr." 
Der Mann unterbrach sich, in trauriger 
Stimme fuhr er fort: 
„Was sollte ich mit dem Kinde tun? 
Ich schrieb an ein Institut, in dem ich be 
kannt bin, man antwortete, es sei bereits 
alles überfüllt. Der Brief kam gestern. 
Da entschloß ich mich, hieher zu kommen, 
„Graf Ehrenhorst und hier meine Bertha." 
Da wurde die Schwester bleich, sah zur 
Erde und schien ohnmächtig zu werden. Vor 
ihren Augen bewegte sich alles im Kreise. 
Schon scheint es, sie sinkt zur Erde nieder. 
„Frau Oberin, Ihnen ist unwohl?" fragte 
der Graf. 
„Nein, es ist ohne Bedeutung," gab die 
Gefragte zurück, als sie sich von den Folgen 
der Ueberraschung erholt hatte. 
Kannte sie diesen Namen, daß sie so 
bleich wurde? Sie kannte ihn. 
„Ihr Kind soll bei uns bleiben, ich ver- 
versichere Sie, Herr Graf, eine gute Mutter 
will ich dem Kinde sein." 
„Bertha, sieh! hier ist von heute an deine Mutter!" 
mag es gehen wie es wolle. Ich bitte Sie, 
nehmen Sie mein Kind, es braucht eine 
Mutter so notwendig, wie kaum ein anderes. 
Ein Vater ist nie eine Mutter." 
„Auch bei uns ist alles überfüllt, doch 
ich will es versuchen. Es wird gehen. Das 
Kind muß eine Mutter haben." 
Sie sagte diese letzten Worte so warm, 
daß der Mann, der vor ihr stand, sie nicht 
mehr vergessen konnte, solange er lebte. 
„Dank, herzlich Dank, Frau Oberin." 
„Keine Worte. Doch darf ich um den 
Namen bitten." 
Die Schwester hatte vergessen, die Karte 
abzugeben. 
„Ich danke Ihnen. Es gewährt mir Be 
ruhigung, in Ihren Händen das Kind zu 
wissen." 
Wie er so sprechen konnte? Kannte er sie 
denn, die vor ihm stand? Er kannte sie 
nicht, sie kannte ihn. Und weil sie ihn kannte, 
war dieses Wort von ihr mit solcher Wärme 
gesprochen worden. 
Der Vater nimmt Abschied vom Kinde. 
„Bertha, nun leb wohl. Sieh! hier ist 
von heute an deine Mutter." 
Bertha sah mit großen Augen den Vater 
an, dann die Klosterfrau. 
„Bertha, bleib brav."
	        
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