Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1905 (1905)

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Oberin, die Leiterin des Hauses. Sie ist 
von Eltern und Zöglingen umringt, alles 
will mit ihr reden, für alle hat sie eine 
freundlich lächelnde Miene, einen gütigen 
Blick, ein liebes Wort. Sie ist ein Wesen, 
das im ersten Augenblicke zu fesseln ver 
steht und jeden gewinnt, mit dem es in 
Verkehr tritt. Nichts Süßliches ist an ihr, 
ihr Lächeln ist nur die sonnige Seite eines 
tiefen Gemütes, das im Dienste der Nächsten 
liebe und im Ernst des Lebens gelernt hat 
und nun die Früchte gesegneter Aussaat 
denen darbietet, die ihr nahen. 
Jeder Mutter, jedem Vater versichert 
Schwester Oberin, für ihr Kind ganz be 
sonders zu sorgen. 
„Ich will Ihrem Kinde Vater und 
Mutter sein, das ist mein Berits." 
„Und sollte es an dem Kinde fehlen, 
bitte ich um Strenge." 
„Gelt, Kleine, es wird nie an dir fehlen, " 
sagt Schwester Jovita — so heißt die 
Oberin im Klosternamen — »an dir wird 
es nicht fehlen. Du versprichst es mir." 
Dabei streichelt ihre feine Hand über die 
Wange der Kleinen und hat mit lindem 
Streicheln im Augenblicke schon einen Lieb 
ling gewonnen. 
Oben auf den Gängen, in den Sälen ist 
alles lebendig, zwischen zahllosen Körben 
und Koffern steht die lebenslustige Schar 
der Mädchen. Die „Alten", — jene, die 
schon bisher im Institute gewesen, — er 
zählen sich von ihren Ferienereignissen und 
finden kein Ende. Andere naschen Obst aus 
einer Düte und scherzen und lachen. Die 
Neuen — zumeist auch die Jüngsten — 
stehen verlassen umher, sie kennen noch 
niemand, fühlen Heimweh uud können nicht 
verstehen, wie die andern, die doch auch 
von Vater und Mutter fort mußten, so 
heiter sein können. Mit einem Male steht 
eine Schwester hinter den Verlassenen. 
„Kinder, nicht weinen! Wir wollen in 
den Garten gehen und ein Spiel machen." 
Da hellen sich die Kindermienen auf, erst 
zögernd, dann schneller folgen sie der 
Schwester und treten in den Garten. Sie 
sehen den Spielplatz und die erste Lust be 
ginnt. Kinder vergessen schnell. Im Reize 
des Spieles flog das Heimweh fort und 
Kichern und Lachen einte die vorerst noch 
traurige Schar. 
Um sieben Uhr finden sich die Zöglinge 
zum Abendtische ein, um acht Uhr zum 
Nachtgebete. 
Dann begeben sich alle in die Schlafsäle 
und schlafen die erste Nacht in der „Fremde" 
— wenn man solche Heimat „Fremde" 
nennen kann. Die „Neuen" weinten aber 
doch, jetzt ist das Spiel wieder vergessen, 
denn das fremde Bettchen sagt ihnen, sie 
seien fort von Mutter- und Vaterhaus. 
Schwester Jovita hat noch dieses und 
jenes zu ordnen. Sie eilt von Saal zu 
Saal, ob alles in Ordnung sei, redet mit 
jeder Schwester, ob etwas fehle. .. 
Da tönt in die Nachtstille herauf das 
Klingen der Pfortenglocke. Einige Augen 
blicke später tritt ein hochgewachsener Mann 
ein, an der Hand ein Mädchen führend, 
und bittet mit Worten der Entschuldigung, 
Schwester Oberin noch sprechen zu dürfen. 
Er habe mit dem Wagen Unglück gehabt 
und sei deshalb so spät hier. 
Die Pfortenschwester führte beide in das 
Wartezimmer und eilte zur Schwester Jovita. 
„Noch jemand hier," hatte sich diese so 
gleich gesagt, „fehlt einer von den ange 
meldeten Zöglingen?" 
„Nein," sagte Schwester Präfektin, „es 
sind alle eingetroffen." 
Inzwischen meldete die Pfortenschwester 
die Ankunft der beiden Fremden und gab 
den Grund an, warum die Verspätung 
geschehen sei. 
„Ein neuer Zögling, sagen Sie." 
„Ja, es scheint so zu sein." 
Man hatte keinen mehr angemeldet, ein 
neuer Zögling in letzter Stunde. 
SchwesterOberin war nicht erregt darüber, 
daß man zu solcher Stunde eine Unange 
meldete bringe. Dazu war sie zu sanft und 
gebildet. 
Sie trat in das Sprechzimmer, in dem 
das elektrische Licht die Umrisse der Gestalt 
genau erkennen ließ. Ein stattlicher Mann, 
vornehm gekleidet, stand vor ihr. Ein lieber, 
blonder Lockenengel ihm zur Seite, das 
Kind. 
„Entschuldigen Sie, Frau Oberin, ich 
komme wohl ohne jede Manier. Ich bringe
	        
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