Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1904 (1904)

('122') 
Lina hatte ihr Nachtgebet gesprochen und 
sich zur Nahe begeben. Sie schloß die Augen 
in dem Bewußtsein, mit der Zusage, dem 
Feste des nächsten Tages beizuwohnen, eine 
Pflicht der Kindesliebe gegen die Mutter er 
füllt zu haben. 
So schlief sie ein und . . 
Ihr Schlummer wurde Leben . . . 
* 
* * 
Wo bin ich? Der weite Saal. Dort an 
den Säulen flammt Licht an Licht und die 
Flammen spiegelten sich in den Spiegelwän 
den, wie einst am Christabend. Doch kein 
Christabend ist heute, heute ist Ballnacht. 
Sind Blumen hier? Veilchen, Narziß 
und Rosen? Nein, aber weich und mild strömt 
der Wohlgecuch durch den Saal. 
Leise nahen die Klänge des Waldhornes, 
der Harfe und Cymbal. Erst von ferne, dann 
näher und näher. Im Saal ertönt Musik. Da 
erlöschen die Lichter vor einem Licht, das 
sie überstrahlt und leuchtet wie die Sonne. 
Es erscheint im Saale ein Thron, heilig und 
hehr, als sei er der Thron der Majestät 
Gottes. Er ist es, es naht der Herr. Ihm 
zur Seite knien Engel und singen. Ihr Lied 
ist das Lied aller Sprachen und Melodien, 
das Lied der Ewigkeit. Vor dem Throne kniet 
Lina, sie sieht es und sieht sich selbst. 
Ihre Nacht, ihr Schlummer ist Leben ge 
worden, sie träumt ihr Leben . . . 
Sie kniet vor dem Throne des Herrn und 
erhebt das Antlitz und schaut in die Güte 
Gottes hinein, in sein Auge. 
Sie betet ihn an. 
Mit Wohlgefallen schaut auf sie das Auge 
des Herrn. Er kennt sein Kind, das die Seele 
nicht verkauft um Gold. 
Der Ewige segnet Lina. Er hat die Hände 
über ihren Scheitel ausgebreitet und wie 
selige Wärme strömt es auf sie nieder. 
Sie schaute auf und kann das Leuchten 
nicht vertragen, das aus der Schönheit Gottes 
glänzt. Sie weint vor Heimweh nach Gott, 
den sie gefunden. Sie will nicht mehr fort 
von hier, sie hat Gott gesehen und wer ihn 
gesehen,kannnursattwerdenimWiederschauen. 
Wie im Augenblicke erloschen die Lichter, 
der Thron Gottes verschwindet, sie liegt in 
ihrem Sarge. Mit starrem Auge sieht sie um 
her, neben ihr die Leuchter, die Palmen. Es 
naht Erwin. Kein Gebet kommt über seine 
Lippen, er ist ungläubig. Es tritt die Ba 
ronin an den Sarg. Stumm schaut sie hinein 
zur Leiche des Kindes, das ihr den Reichtum 
durch ein einziges „Ja" verdienen hätte können 
und aus Starrsinn nicht verdiente. Kein Segen 
kommt über die Lippen der Mutter. 
Lina friert im Sarge, das ist der Tod. 
Die Lichter werfen bleichen Strahl auf sie, 
daß sie noch bleicher wurde. 
Es dröhnen zwölf Schläge, Mitternacht. 
Lina erwacht, um sie ist es finster. Kniet sie 
vor dem Throne Gottes? Nein. Liegt sie 
im Sarge? Sie hat geträumt. 
Sie wischt den kalten Angstschweiß von 
der Stirne, greift nach der Wand, wo sie 
sei, sie hat geträumt. 
Ihre Augen sind noch matt vom Schauen 
und von der Starre des Traumes. Sie sieht 
zum Fenster hinüber, tausend Sterne grüßen 
herein, die Boten vom Throne Gottes. 
Sie schlummert vor Ermüdung ein. 
Wieder wird der Schlummer Leben. Wieder 
rauscht Musik, es ist Ballnacht. Erwin ist 
nicht da. Sie atmet auf und freut sich, ihn 
nicht zu sehen. Da öffnet sich die Türe, er 
tritt ein. Ihr ist, sie müsse ohnmächtig hin 
sinken, da erwacht sie . . 
Als der Morgen, ein kalter Wintermor 
gen kam, ging Lina müde aus dem Zimmer. 
Ihr Blick war anders, ihre Gestalt, ihre 
Sprache. Was war über sie gekommen? 
Sie hatte geträumt. 
Sie erzählte, so verschlossen sie sonst schien, 
ihren Traum. Die Geschwister lachten, während 
die Mutter sagte: 
„Nein, nein, liebes Töchterlein, so schnell 
stirbt man nicht. Auch der Tod will seine 
Zeit haben. Er wird sich schon anmelden, 
wenn er kommt." 
Das sagte sie mit dem Ausdrucke witzigen 
Spottes im Antlitze. 
Mochten sie spotten, aus Linas Gedanken 
kam das Bild nicht mehr: Ich liege im Sarge. 
Gegen Abend zu sagte sie nochmals zur 
Mutter: 
„Mutter, kommt er doch nicht?" 
„Kind, hast du die Karte nicht gelesen?" 
„Ich würde ohnmächtig hinsinken, wenn ich 
ihn sehe. Er würde mich zum Tanzen zwin 
gen, ich kann ihm die Hand nicht geben.
	        
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