Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1898 (1898)

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! Mein Bruder, der die Stellung als Spital 
arzt in einer Vorstadt der Residenzstadt be 
kleidet, ist es gewesen, der dies entdeckt durch 
Gottes Fügung". 
Und Pfarrer Georg Weber erzählte, 
was ihm sein Bruder über Lehmann ge 
schrieben. 
Das Gefühl des Schmerzes über Karls 
Verwundung musste dem des Dankes und 
der Freude über die wunderbare Fügung 
des Himmels weichen. Frieda weinte vor 
Freude. Karl hatte wieder den Frieden, und 
sie Karl gefunden. 
Zwischen dem Pfarrhof und dem Schul 
hause des Marktes R. steht ein hübsches, 
zweistöckiges Haus. Im ersten Stockwerk hat 
sich Doctor Lehmann als Arzt eingemietet. 
Wiewohl im Markte bereits ein Arzt sich 
befand, wurde dennoch durch Ansiedlung 
Lehmanns nur einem langjährigen Bedürfnis 
abgeholfen. Dem einzigen Arzte allein war 
es bisher, besonders zur gefährlicheren Jahres 
zeit kaum möglich gewesen, die bedeutende 
Arbeit zu leisten. Nachdem Karl das Spital 
verlassen, hatte er in seinen beiden priester- 
lichen Verwandten, dem Spital- und dem 
Pfarrer von R. freudige Unterstützer ge 
funden, so dass es ihm möglich ward, zu 
seinem früheren Berufe wieder zurückzukehren. 
Bald gewöhnte sich Lehmann an seinen 
Wirkungskreis in R. und eroberte sich durch 
seine Liebenswürdigkeit und Geschicktheit 
Kunden und Freunde. Zwischen ihm und 
Frieda waltete wieder jene weiche, treue 
Liebe, die da die Herzen edelt und eint. 
Karl fühlte es, dass er in ihr einen Edel 
stein besaß, denn ihr Wesen war mild und 
glaubensinnig. Nie hatte sie ein Wort des 
Vorwurfs oder der Klage, was sie sprach, 
war die Sprache der echten, christlichen 
Gattin. Oft trat der Pfarrer in die Wohnung 
der Nichte und weilte dort, wo er so schöne 
Harmonie zwischen Herzen fand, die sich 
diesen Frieden in Sturm und Leid erobert 
hatten. Abends gieng Karl niemals in die 
Gesellschaft, er fand ja zuhause alles, was 
sein Herz wünschte. Zuweilen kam auch der 
gute Pfarrer vom Spital auf Besuch und 
Karl begrüßte aus voller Seele den, der sich 
als sein bester Freund erwiesen, weil er ihm 
den Frieden des Herzens geschenkt. 
Karl wuchs heran und ward der schönste 
Knabe der Marktschule. Sein lichtes, freund 
liches Auge spiegelte ein Herz, das unter 
dem milden Sonnenschein warmer Mutter 
liebe aufgeblüht. Unter den Mitschülern war 
er der bravste und beste, der Liebling der 
Lehrer und des Katecheten. Als ihn die 
Mutter einmal fragte, was er werden wolle, 
war unter Erröthem seine Antwort: 
„Mutter, ich möchte Priester werden". 
Frieda lächelte in Thränen und küsste 
die Stirne des Knaben: Ihr schönster Herzens 
wunsch war es ja, dass er Priester würde. 
So gieng Jahr auf Jahr vorüber, schon 
war es das zehnte, seit Lehmann in R. sich 
niedergelassen. Nahe dem Marktflecken liegt 
auf dem Hügel eine Wallfahrtskirche. Dort 
hin wandern Frieda und Karl alljährlich 
am letzten Mai, der Himmelskönigin zu 
danken für jene überreichen Gnaden und die 
wunderbare Hilfe, die sie in größter Noth 
beiden geleistet. Heute begleitet sie bei der 
Wallfahrt auch Karl, der wegen der Pfingst- 
ferien bei seinen Eltern weilt. Er hat nicht 
mehr abgelassen von seinem schönen Ziel 
und studiert schon das dritte Jahr am Gym 
nasium, um einst Priester zu werden. 
Langsam pilgern die drei Waller unter 
stillem Gebete den Weg zur Gnadenstätte 
hinan. Neben einem Feldkreuze steht ein 
Bettler, der um eine fromme Gabe bittet. 
Karl Lehmann gibt ihm eine Silbermünze. 
Der Arme nickt dankend und sagt: 
„Vergelte es euch Gott tausendmal! Ich 
werde schon für euch beten"! 
Die Waller giengen ihren Weg weiter. 
Da fragte Frieda: 
„Karl, hast du den Bettler gekannt"? 
„Nein, Frieda. Aber aus seinem elenden 
Aussehen schloss ich, dass er sehr arm sei. 
Er scheint auch krank zu sein, denn seine 
Züge waren so fahl und bleich ..." 
„Karl, du hast ihn nicht gekannt? Es 
war Silberstein". 
Lehmann sah zurück, doch der Bettler war 
entschwunden. Tausend Gedanken eilten in 
wilder Flucht durch die Stirne Karls, er blieb 
sinnend stehen und sprach halblaut vor sich hin: 
„Es gibt halt doch einen Gott, Silber 
stein" ! — 
Gottes Fügungen sind wunderbar!
	        
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