Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1894 (1894)

(76). 
iw und Elend. 
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(jTp-. in thaufrischer, herrlicher Morgen war über dem 
pSckp geschäftigen New-Iork erwacht und kaum war 
V>y die Morgensonne am Himmel sichtbar ge- 
1> worden, da hasteten auch schon die Bewohner 
dieser Stadt dem Ziele, der Arbeit, entgegen. 
„Ist das der Weg nach H.?" 
„Ja", erwiderte kurz und rauh ein Matrose mit 
sonugebräuntem Gesicht und gieng vorüber. 
Es ward Nachmittag und noch immer schritt ein 
junges Weib, fast noch Mädchen, das die obige Frage 
gestellt, vorwärts. Schwächlich und armselig war ihr 
Aussehen; durch den zerrissenen Strohhut drang die 
heiße Sonnenglnt, zerrissene Schuhe konnten die 
müden Füße nicht vor der Rauheit des Weges 
schützen. 
„Ist dies der Weg nach H.?" 
„Ja wohl, arme Frau, was wollen Sie denn in 
der Stadt?" 
Die Angeredete schüttelte den Kopf und schritt 
vorwärts mit krampfhaft zitternden Lippen, ohne jedoch 
dem alten freundlichen Herrn zu antworten, der, von 
der Erscheinung betroffen, sein Pferd anhielt, um sich 
nach dem Reisezweck der eiligen Pilgerin zu erkun 
digen. 
Der Thau fiel und die einundzwanzigjährige Käthi 
Braun schritt unaufhaltsam weiter — ach, die Füße 
begannen den Dienst zu versagen, und sie musste sich 
auf einen Stein niedersetzen. Sie sah so müde aus, 
die Gestalt so gebeugt, das Gesicht mit den Händen 
bedeckt,' durch die heiße Thränen sich drängten. 
„Arme Frau! was machen Sie hier?" sagte eine 
sanfte, theilnehmende Stimme, und aufblickend sah 
Käthi eine hübsche, junge Dame und einen elegant 
gekleideten Herrn vor sich stehen. 
„Ich will nach H. gehen!" 
„Höre nur, Georg", sagte die Dame zu ihrem 
Begleiter, ihrem Bruder, „diese Frau will noch zwei 
Meilen gehen. Wissen Sie auch, wie weit dies ist?" 
Käthi trocknete die Thränen, die groß und schwer 
aus ihren Augen flössen, und sah zu den Beiden aus. 
„Warum wollen Sie nach H.? Und haben Sie 
denn auch etwas gegessen?" 
Käthi schüttelte den Kopf. 
„Wie heißen Sie?" 
„Käthi". 
„Nun, Sie müssen zu uns kommen und etwas 
essen. Dann können Sie bei uns ausruhen und morgen 
weiter reisen. Kommen Sie!" 
Und Käthi folgte der freundlichen Dame und ihrem 
Begleiter in ein palastähnliches Haus, von Park- 
Anlagen umgeben, außerhalb New-Aorks, in jener 
Gegend, in der sich die Landhäuser der Besitzenden 
befinden. 
„Susanne", rief die junge, zurückgekehrte Herrin 
in die Küche, „gib der Frau hier etwas zu essen; 
sie muss sehr hungrig und müde sein". 
Susanne, an das Elend und die Noth in Amerika 
gewöhnt, blickte freundlich auf das junge Weib, ergriff 
jhre zitternde Hand, und führte sie in die Küche. 
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Unterdessen besprach Natalie, die wohlwollende Dame, 
im Salon ihres Vaters das Erlebnis, und dieser sprach 
seine Meinung aus, die arme Frau des andern Tages 
ein Stück Weges fahren zu lassen, da er ja Wagen 
und Pferde zur Verfügung habe. 
Nach dem Thee wurde Susanne gerufen, um die 
Reisende in das Zimmer zu führen; aber selbe war 
nirgends zu finden; überall wurde gesucht, aber keine 
Spur entdeckt. Niemand ahnte, daß eine unbezwing 
bare Sehnsucht nach ihrem Reiseziele sie fortgetrieben 
und daß sie eine Gelegenheit, als man sie allein ge 
lassen, benutzt hatte, aus dem Hause zu treten, und 
schon wieder eine weite StreH gewandert war; als 
es finster geworden, kroch sie unter das Vordach eines 
Magazins, wie selbe ja in Amerika überall zu finden sind, 
weil sie fürchtete, sich in der Dunkelheit zu verirren. 
* 
* * 
„Herr Jnspeetor", sprach ein derber, breitschulteriger 
Gefängniswärter am Morgen des nächsten Tages. 
„Da draußen fanden wir soeben auf den Stufen der 
Anstalt ein schwächliches, weinendes Weib, und meine 
Frau in ihrem Mitleid nahm sich der Verlassenen an; 
ihren Namen hat sie nicht gesagt; das heißt, sie will 
jemand im Gefängnis besuchen, was ich aus ihren 
wirren Reden entnahm". 
„Bringt sie zu mir", sagte kurz der Jnspector. 
Nach wenigen Augenblicken stand die Arme zitternd 
und angstvoll bebend vor dem Jnspector. 
„Woher kommen Sie?" frug dieser gütig. 
„Heute von New-Iork, vor zwei Tagen bin ich 
in O. aufgebrochen". 
„Doch nicht zu Fuß?" 
„Ja, Herr". 
„Warum kommen Sie?" 
„Meinen Mann zu sehen". Bei diesen Worten 
kam das lang unterdrückte Gefühl zum Ausbruch und 
heftiges Schluchzen schüttelte die zarte Gestalt. „Wer 
ist Ihr Mann?" 
„Mein Mann heißt James Braun und ist leider 
im Gefängnis; er ist nicht böse", fuhr sie eifrig fort; 
„arm kamen wir aus Deutschland hier an und die 
Noth, Herr, nur die Noth hat ihn'zum Diebe gemacht; 
man versprach uns goldene Berge, und ach, wie vieles 
haben wir schon hier gelitten". 
Der Jnspector war gerührt von der Jugend und 
dem wahrhaft traurigen Ausdruck der Armen und 
sagte: „Wir haben drei Braun hier, kommen Sie, 
Sie sollen Ihren Mann sehen". 
Nun giengen die drei, der Jnspector, der Schließer 
und die arme, durch die furchtbaren Anstrengungen 
der Fußreise und durch Entbehrungen aller Art ent 
kräftete Frau durch lange, finstere Gänge an vielen 
verriegelten Thüren vorüber; alles, alles sprach hier 
von Verbrechen, von furchtbaren, durch des Gesetzes 
eiserne Strenge gefesselten Leidenschaften. 
Endlich stand der Schließer vor einer Thüre still, 
schob eine Klappe in die Höhe und rief in die Zelle: 
„Braun, eure Frau ist hier".
	        
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