272 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
Zu den Beweggründen rein technischer Natur, die gegen eine
lokale Ergänzung sprachen, gesellten sich gleichfalls wichtige
Beweggründe politischer Natur. Es gab viele, die der Meinung
waren, daß die Soldaten der Roten Armee in Gegenden unweit
ihrer Heimat schlecht kämpfen, daß der geringste Mißerfolg
Fahnenflucht und Zersprengung der Truppen verursachte.
Doch die Wirklichkeit, die alle überall zu einer derartigen loka¬
len Ergänzung zwang, bewies die Unrichtigkeit dieser vorsichti¬
gen Meinung. Im Falle eines Mißerfolges flüchteten Bewohner
der entferntesten Gegenden ebenso leicht wie die ansässigen. Dar¬
in gab es keinen großen Unterschied. Dagegen stützten sich alle
bedeutenderen Kraftleistungen, alle kühnen Unternehmungen
und Feldzüge fast immer auf lokale Mobilisierung und lokale Er¬
gänzung. Dieses war ebenfalls im Juni 1920 der Fall. Die schwa¬
chen Stände der Truppen, die Notwendigkeit einer schnellen Of¬
fensive und die aussichtslose Lage der zentralen Reserveabteilun¬
gen zwangen die Westfront dazu, die Ergänzung mit eigenen Mit¬
teln durchzuführen.
Erhaltenen Nachrichten zufolge wimmelte es an der Westfront
von Deserteuren jener Jahrgänge, die von der Mobilisierung um¬
faßt waren. Wir rechneten, daß man bei entsprechender Vorbe¬
reitung dieser Aktion 40 000 Deserteure aus dem Lande wird her¬
auspressen können.
Es wurde hierzu ein sorgfältiger Plan vorbereitet, man setzte
politische und Verwaltungsbehörden in Bewegung, führte strenge
Strafen in weitestem Maße ein und begann die ganze Aktion sehr
intensiv. Ihre Resultate übertrafen alle Erwartungen. Die Deser¬
teure meldeten sich freiwillig. Sehr oft trachteten sie, sich als
Freiwillige bei den kämpfenden Truppen einzustellen. Nur we¬
nige wurden auf administrativem Wege herangezogen. Im Laufe
des Monats Juni reihte man beiläufig 100 000 Deserteure ein, was
unsre Erwartungen zweieinhalbmal übertraf.
Die ganze Menschenmasse wurde unsrer Reservearmee und den
Reserveregimentern der aktiven Armee zugeteilt, wo man eine fie¬
berhafte Ausbildungsarbeit begann, um sie den kämpfenden Re¬
gimentern zuzuführen. In dieser Hinsicht bestanden gewaltige
Schwierigkeiten. Gänzlicher Mangel an Bekleidung, ungenügende
Anzahl von Kasernenunterkünften erschwerten den Unterricht
und setzten sein Niveau herab.
Die an die Front gelangten Kommunisten und Mitglieder der
Berufsarbeitervereinigungen wurden mit dieser frisch angewor¬