Volltext: Descartes' Schule [1. Band. Zweiter Theil, zweite völlig umgearbeitete Auflage] (1,2,2 / 1865)

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schränken oder aufheben, können unmöglich Tugenden sein. Und 
da das Vernunftbewußtsein das höchste Machtgefühl giebt, so 
können die ohnmächtigen Affecte nie aus der Vernunft hervor 
gehen. Darum sind Selbsterniedrigung (Immüitas) und Reue 
keine Lugenden. Bei Geulinx war die „humilitas“ die höchste 
Tugend, die Tugend der Tugenden; bei Spinoza gilt sie als 
gar keine. Die Reue aber ist doppelt ohnmächtig, weil sie zu der 
schlechten Handlung, die schon als solche leidender Natur ist, noch 
die Zerknirschung hinzufügt. Wer Reue empfindet, ist darum 
zwiefach elend. Freilich werden die meisten Menschen nicht durch 
die Vernunft, sondern durch ihre selbstsüchtigen Begierden getrie 
ben, und ihre Handlungen sind darum schlecht. Wären diese 
Leute ebenso hochmüthig, als sie geistesschwach sind, so gäbe es 
nichts, was sie fürchteten, und ihre Schlechtigkeit wäre zügellos. 
Darum sind für die Leute, die in der Verworrenheit der schlechten 
Affecte leben, jene deprimirenden Empfindungen der Furcht, Reue, 
Demuth u. s. f. ein wohlthätiges Gegengift, das der gemeinen 
Menschennatur mehr nützt als schadet. Daher haben auch die 
Propheten, weil sie das Gemeinwohl im.Auge hatten, Demuth, 
Reue, Ehrfurcht den Menschen als Tugenden gepredigt. Denn 
„terret vulgus, nisi metuat!“ An dieser Stelle hat dieser Satz 
kein politisches, sondern ein rein ethisches Gepräge. Und in dem 
politischen Tractat haben wir gesehen, wie Spinoza die Machthaber 
der Welt keineswegs von jenem „vulgus" ausnehmen will, dem 
Reue, Demuth u. s. f. besser und nützlicher sind, als die entgegen 
gesetzten Affecte*). 
*) Eth. IV. Prop. LTY. Schol. Ueber die Tugend der Demuth 
bei Geulinx vgl. oben Cap. II. Nr. III. 1. u. 2. S. 23 — 27. Ueber 
das „terrst vulgus, nisi metuat“ vgl. oben Cap. XIX. Nr. IV. 8. 
S. 416 slgd.
	        
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