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schränken oder aufheben, können unmöglich Tugenden sein. Und
da das Vernunftbewußtsein das höchste Machtgefühl giebt, so
können die ohnmächtigen Affecte nie aus der Vernunft hervor
gehen. Darum sind Selbsterniedrigung (Immüitas) und Reue
keine Lugenden. Bei Geulinx war die „humilitas“ die höchste
Tugend, die Tugend der Tugenden; bei Spinoza gilt sie als
gar keine. Die Reue aber ist doppelt ohnmächtig, weil sie zu der
schlechten Handlung, die schon als solche leidender Natur ist, noch
die Zerknirschung hinzufügt. Wer Reue empfindet, ist darum
zwiefach elend. Freilich werden die meisten Menschen nicht durch
die Vernunft, sondern durch ihre selbstsüchtigen Begierden getrie
ben, und ihre Handlungen sind darum schlecht. Wären diese
Leute ebenso hochmüthig, als sie geistesschwach sind, so gäbe es
nichts, was sie fürchteten, und ihre Schlechtigkeit wäre zügellos.
Darum sind für die Leute, die in der Verworrenheit der schlechten
Affecte leben, jene deprimirenden Empfindungen der Furcht, Reue,
Demuth u. s. f. ein wohlthätiges Gegengift, das der gemeinen
Menschennatur mehr nützt als schadet. Daher haben auch die
Propheten, weil sie das Gemeinwohl im.Auge hatten, Demuth,
Reue, Ehrfurcht den Menschen als Tugenden gepredigt. Denn
„terret vulgus, nisi metuat!“ An dieser Stelle hat dieser Satz
kein politisches, sondern ein rein ethisches Gepräge. Und in dem
politischen Tractat haben wir gesehen, wie Spinoza die Machthaber
der Welt keineswegs von jenem „vulgus" ausnehmen will, dem
Reue, Demuth u. s. f. besser und nützlicher sind, als die entgegen
gesetzten Affecte*).
*) Eth. IV. Prop. LTY. Schol. Ueber die Tugend der Demuth
bei Geulinx vgl. oben Cap. II. Nr. III. 1. u. 2. S. 23 — 27. Ueber
das „terrst vulgus, nisi metuat“ vgl. oben Cap. XIX. Nr. IV. 8.
S. 416 slgd.