Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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putiren. Doch streitet man über den Geschmack, über die ästhe 
tischen Beschaffenheiten der Dinge, über Kunst und Kunstkritik. 
Dieß wäre unmöglich, wenn nicht objective Bestimmungsgründe 
des Geschmacks angenommen würden. Ueber die Verschiedenheit 
der Empfindungen und Sensationen streitet niemand. Sein 
ästhetisches Urtheil vertheidigt jeder, so sehr er den Geschmack selbst 
für etwas Eigenartiges hält. Man wird also in Rücksicht des Ge 
schmacks beides behaupten: daß er bloß individuell und zugleich all 
gemeingültig oder allgemein mittheilbar sei, daß er keine Norm 
und daß er eine Norm habe, daß er sich nicht auf Begriffe und 
daß er sich auf Begriffe gründe, daß man über den Geschmack 
nicht disputiren und doch darüber streiten könne. Offenbar ver 
halten sich diese Sätze, welchen Ausdruck sie auch haben mögen, 
wie Thesis und Antithesis, sie bilden eine Antinomie, die Kant 
so ausdrückt: „1) Thesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich 
nicht auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber disputiren (durch 
Beweise entscheiden). 2) Antithesis. Das Geschmacksur 
theil gründet sich auf Begriffe, denn sonst ließe sich darüber auch 
nicht einmal streiten (auf die nothwendige Beistimmung anderer 
mit diesem Urtheile Anspruch machen)." 
Nach dem, was wir ausgemacht haben, ist die Auflösung 
einfach. Das ästhetische Urtheil gründet sich auf das Gefühl, 
also nicht auf Begriffe: mithin hat die Thesis Recht. Aber das 
ästhetische Gefühl gründet sich auf die Harmonie der Gemüths- 
kräste, d. h. auf einen rein menschlichen, allgemeinen Gemüths 
oder Vorstellungszustand, also ist auch das ästhetische Gefühl all 
gemein mittheilbar und nicht bloß individuell: mithin hat die 
Antithesis ebenfalls Recht. 
Das Wort Begriff ist vieldeutig. In einem anderen Sinn 
wird dieses Wort in der Thesis, in einem anderen in der Anti
	        
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