Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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es vollkommen begreifen, daß wir es ganz vorstellen: sie for 
dert den Begriff des Ganzen. Ist das Object schlechthin groß, 
so ist die Einbildungskraft nicht im Stande, das Bild desselben 
zu fassen. Was also die Vernunft in allen Fällen verlangt, das 
ist in diesem Falle die Einbildungskraft nicht im Stande zu lei 
sten. Hier also entsteht in uns ein Widerstreit zwischen Sollen 
und Können, zwischen Vernunft und Einbildungskraft: ein Wi 
derstreit, dessen erste Empfindung keine andere sein kann als das 
Gefühl unseres Unvermögens, als das Gefühl der Unlust. 
Nun ist die Einbildungskraft unser sinnliches Vorstellungs 
vermögen, d. h. unser Vorstellungsvermögen, sofern wir Sinnen 
wesen sind. Wenn also unsere Einbildungskraft dem Object ge 
genüber erlahmt, so ist diese Ohnmacht der Einbildungskraft zu 
gleich die Ohnmacht unserer ganzen sinnlichen Vorstellungsweise, 
unseres ganzen sinnlichen Daseins. Wenn wir in unserem sinn 
lichen Dasein uns schlechthin ohnmächtig fühlen, so erscheinen 
wir als Sinnenwesen uns selbst unendlich klein, unendlich nich 
tig gegenüber dem schlechthin Großen! Wenn wir uns selbst un 
endlich nichtig erscheinen, vor uns selbst als Sinnenwesen gleich 
sam verschwinden und in den Staub sinken, so offenbart sich darin 
der Doppelsinn unseres Wesens. Wir sind die sinnlichen Men 
schen; zugleich sind wir es, denen ihre eigene Sinnlichkeit un 
endlich klein und nichtig erscheint. Also müssen wir unendlich 
mehr sein, als bloß sinnlich; es muß uns selbst ein der sinn 
lichen Natur schlechterdings überlegenes Vermögen inwohnen: 
dieses Vermögen ist das Uebersinnliche in uns, die reine Ver 
nunft. Wenn wir uns als Sinnenwesen vernichtet fühlen, so 
fühlen wir uns eben dadurch als übersinnliche, intelligible, rein 
moralische Wesen; oder die Vernichtung unseres sinnlichen Da 
seins wäre eine totale Vernichtung, und dann wäre kein Gefühl,
	        
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