Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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innerlich erleuchtete Stillleben der einzelnen Seele in Gott; so 
hat Göthe diese Religionsart dargestellt in den „Bekenntnissen 
einer schönen Seele". 
Diese beiden Arten der Mystik, der Pietismus und die herrn- 
hutische Richtung, die Spener'sche und Zinzendorf'sche Frömmig 
keit, sind die einzig möglichen Sectenunterschiede in Rücksicht der 
Religion. In beiden Formen wird die Aufgabe der Religion 
rein moralisch d. h. übersinnlich, und die Auflösung mystisch d. h. 
übernatürlich vorgestellt; in der negativen Form als der fürchter 
liche Kampf mit dem bösen Geist, in der positiven als die innige 
Verbindung mit dem guten: dort als „herzzcrmalmendes", hier 
als „herzzerschmelzendes Gefühl des göttlichen Einflusses". 
Das Verhältniß des Religionsglaubens zu diesen Religions- 
secten ist das Verhältniß des moralischen Glaubens zum mysti 
schen. Der Unterschied liegt nicht in der Aufgabe der Religion, 
in der beide übereinstimmen, sondern in der Art, wie die Auf 
gabe gelöst wird. Von dem Uebernatürlichen giebt es keine Er 
fahrung in uns, es giebt kein Gefühl eines unmittelbaren gött 
lichen Einflusses, kein mystisches Gefühl, in welchem vereinigt 
sein soll, was sich innerhalb der menschlichen Natur nicht verei 
nigen läßt: das Uebernatürliche und die Erfahrung. Wie die 
Aufgabe der Religion, so ist auch deren Lösung übersinnlich, nicht 
mystisch, sondern moralisch und praktisch. Die Möglichkeit die 
ser Auflösung erklärt sich aus der Ueberlegenheit des übersinnlichen 
Menschen über den sinnlichen, d. h. aus der Freiheit, uner 
kennbar aus theoretischen, aber einleuchtend und gewiß aus mo 
ralischen Gründen. So steht der reine Religionsglaube im Wi 
dersprüche sowohl zu einem „seelenlosen Orthodoxismus" als zu 
einem „vernunfttödtcnden Mysticismus". Unter den Offenba 
rungsurkunden enthält die Bibel allein den rein moralischen Glau-
	        
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