Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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Einfluß eines himmlischen Geistes in seinem nöthigen Grade er 
reichbaren Gram, um welchen der Mensch selbst bitten müsse, 
indem er sich selbst darüber grämt, daß er sich nicht genug grä 
men (mithin also das Leidsein ihm doch nicht so ganz von Herzen 
gehen) kann. Diese Höllenfahrt des Selbsterkenntniffes bahnt 
nun, wie der selige Hamann sagt, den Weg zur Vergötterung. 
Nämlich, nachdem diese Gluth der Buße ihre größte Höhe er 
reicht hat, geschehe der Durchbruch, und der Regulus des Wieder 
geborenen glänze unter den Schlacken, die ihn zwar umgeben, 
aber nicht verunreinigen, tüchtig zu dem Gott wohlgefälligen 
Gebrauch in einem guten Lebenswandel. Diese radicale Verän 
derung fängt also mit einem Wunder an und endigt mit dem, 
was man sonst als natürlich anzusehen pflegt, weil cs die Ver 
nunft vorschreibt, nämlich mit dem moralisch-guten Lebenswan 
del." Das ist die negative Form der mystischen Auflösung, der 
Pietismus im engeren Sinne, die Spener - Francke'sche Glau 
bensrichtung. 
Die positive Form ist die mildere. Die Wiedergeburt wird 
auch als göttliche Gnade empfunden, aber diese Gnade erscheint 
nicht im Sündenbewußtsein, nicht in der „Höllenfahrt des Selbst 
erkenntnisses", sondern in der Himmelfahrt der Erlösung, in 
dem Gefühle der innigsten Ausnehmung des Guten in das mensch 
liche Herz, der innigsten Gemeinschaft und Vereinigung mit Gott. 
In diesem Gefühle wird das menschliche Leben in seinem Innersten 
glaubenshell, still und andächtig; die göttliche Gnade erscheint 
hier als die Heimath des Herzens, das von den bösen Neigungen 
geläutert, in Gott wiedergeboren, mit ihm in beständiger innerer 
Gemeinschaft lebt. In der Gestalt der Gemeinde oder Secte 
ist diese mystische Glaubensart die „ Mährisch - Zinzendorf'sche" 
Richtung; unabhängig von der Gemeinde, ist sie das fromme,
	        
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