Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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Widervernünftige muß man so auslegen. Die Lehren z. B. der 
Dreieinigkeit und Gottmenschheit, die Erzählungen der Aufer 
stehung und Himmelfahrt erlauben und fordern eine moralische 
Deutung; ebenso die Lehre von der seligmachenden Kraft eines 
bloß historischen Glaubens, von den Gnadenwirkungen Gottes, 
von der übernatürlichen Ergänzung -unserer stets mangelhaften 
Gerechtigkeit. 
Die positiven Theologen selbst, so ausschließlich biblisch sie 
sein wollen, können sich der Auslegung nicht enthalten, sie brau 
chen dazu ihre Vernunft nicht bloß als Organ, sondern auch als 
Maßstab. Wenn sie Stellen finden, wo die Gottheit menschen 
ähnlich geschildert wird, als habe sie menschliche Empfindungen 
und Leidenschaften, da fordern die biblischen Theologen selbst, 
daß jene Ausdrücke auf eine dem wahren Wesen Gottes ent 
sprechende Weise erklärt werden; was „avd-qwjioTtad-wg“ gesagt 
sei, solle man „&so7tQsrrcög“ deuten. Wodurch unterscheiden 
sie den wahren Begriff Gottes vom falschen? Es-heißt: durch 
Offenbarung! Aber wodurch unterscheiden sie die wahre Offen 
barung von der falschen, wonach beurtheilen sie, daß etwas gött 
liche Offenbarung sei? Darüber entscheidet allein unsere Idee 
Gottes. Also ist die Vernunft das zwar unfreiwillige, aber un 
vermeidliche Auslegungsprincip auch der biblischen Theologen. 
So ist z. B. kein Zweifel, daß in ihrem eigentlichen Sinn die 
paulinische Lehre von der Gnadenwahl nicht anders verstanden 
werden kann, als im Sinne der Prädestination, wie die Calvi- 
nisten sie nehmen; dennoch haben christliche Kirchenlehrer sie an 
ders gedeutet, weil sie die Prädestination nicht mit den wahren 
Begriffen von Gott, d. h. nicht mit der Vernunft in Einklang 
bringen konnten. 
Wenn die biblischen Theologen der philosophischen Bibel
	        
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