Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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Wo wir schweigen dürfen, ohne eine Pflicht zu verletzen, 
da brauchen wir nicht offenherzig zu sein. Wenn es die Pflicht 
gebietet, unseren Glauben zu bekennen, da fordert die Pflicht 
der Wahrhaftigkeit unbedingt, daß wir nichts bekennen, nichts 
betheuern oder gar beschwören, wovon wir nicht vollkommen 
überzeugt sind. Diese Gewißheit hat allein der moralische Glaube. 
Nur was wir moralisch sind und sein sollen, ist vollkommen ge 
wiß: das sagt uns das Gewissen selbst. Von einem Factum 
außer uns giebt es keine absolute Gewißheit in uns: darum kann 
kein Geschichts- oder Offenbarungsglaube absolut gewiß sein. 
Ein bloßer Geschichtsglaube, weil ihm die moralische Gewißheit 
fehlt, läßt sich nicht betheuern oder als absolut gewiß behaupten; 
eine solche Betheurung läßt sich von anderen nicht fordern; wer 
diese Betheurung verweigert oder andersgläubig ist, läßt sich 
nicht verdammen. Diese Betheurung, Forderung, Verdammung 
ist niemals wahrhaftig, sie kann es nicht sein, sie ist darum stets, 
wenn sic geschieht, gewissenlos. Darin liegt der Grund, warum 
jede Verurtheilung im Namen des Glaubens (der moralische 
Glaube verurtheilt nie), warum jedes verdammende Ketzergericht 
gewissenlos urtheilt. Ein gewissenhafter Ketzerrichter ist so gut eine 
eontruäietio in uckjeeto, als das hölzerne Eisen und der vier 
eckige Kreis. „Wenn sich der Verfasser eines Symbols, wenn 
sich der Lehrer einer Kirche, ja jeder Mensch, sofern er innerlich 
sich selbst die Ueberzeugung von Sätzen als göttlichen Offenba 
rungen gestehen soll, fragte: getrauest du dich wohl in Gegenwart 
des Herzenskündigers mit Verzichtung auf alles, was dir werth 
und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu betheuern? so müßte ich 
von der menschlichen (des Guten doch wenigstens nicht ganz un 
fähigen) Natur einen sehr nachtheiligen Begriff haben, um nicht 
vorauszusehen, daß auch der kühnste Glaubenslehrer hierbei zittern
	        
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