Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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die Vernichtung der Selbstsucht; wo die Herrschaft der Selbst 
sucht gebrochen ist, da verstummen die feindseligen Gesinnungen, 
der Durst nach Rache und der Haß gegen die Feinde; Liebe und 
Wohlwollen werden die Triebfedern des wiedergeborenen Willens, 
der sich selbst das göttliche Gebot giebt: „liebe Gott über alles 
und deinen Nächsten als dich selbst." 
Diese durch Christus geoffenbarte Lehre enthält nichts, das, 
einmal ausgesprochen, nicht in der Tiefe jedes Gemüthes seinen 
natürlichen Widerhall findet und anerkannt wird als das Gebot 
der eigenen Vernunft, das jeder sich selbst geben sollte und könnte. 
In dieser Anerkennung haben die Gebote Christi sämmtlich ihre 
Geltung: sie gelten unbedingt, nicht um ihrer geschichtlichen 
Offenbarung, sondern um ihres menschlichen Ursprungs willen. 
So ist in Rücksicht der christlichen Gebote die Offenbarung' nur 
das Mittel zu ihrer Verbreitung, zu ihrer öffentlichen Geltung, 
nicht die ausschließende und oberste Bedingung zu ihrer Geltung 
überhaupt *). 
3. Die Offenbarung als Religionsgrund. 
Der Glaube als Gehorsam. Kleriker und Laien. 
Dieses richtige und normale Verhältniß zwischen Religion 
und Offenbarung wird umgekehrt, wenn die Offenbarung mehr 
sein will als Mittel zur Religion, wenn sie den Anspruch macht, 
den alleinigen Rechtsgrund der Religion zu bilden. Dann gelten 
die Gebote der Religion lediglich deßhalb, weil sie geoffenbart 
sind, weil es in den heiligen Schriften so geschrieben steht; dann 
gilt die Offenbarung nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen 
ihrer Thatsache: weil es so geschehen ist, weil es die heiligen Ur- 
*) Ebendas. IY St. I Theil. I Abschn. Die christliche Religion 
als natürliche Religion. — Bd. YI. S. 237—344. 
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