Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

472 
3. Katholicismus, Protestantismus, Aufklärung. 
Zn Rücksicht auf die Urgeschichte des Christenthums müssen 
wir diese bewährenden Zeugnisse bei den römischen Geschichts 
schreibern suchen ; hier aber finden wir solche Zeugnisse erst spät, 
auch dann nur spärlich, und keine, die den Ursprung des Chri 
stenthums selbst erleuchten. So bleibt die Geschichte des Chri 
stenthums dunkel bis zu dem Zeitpunkte, wo innerhalb der christ 
lichen Welt selbst die Schriftgelehrsamkeit sich erhebt und den 
christlichen Glauben zu ihrem Gegenstände macht. Jetzt wird 
aus dem Geschichtsglauben ein statutarischer Wunder - und Kir 
chenglaube, eine Orthodoxie, die als kirchliches Zwangsgcsetz auf 
tritt, die im Orient die cäsaropapistische Form der Staatskirche, 
im Occident die hierarchische des Papstthums annimmt und in bei 
den Fällen eine despotische Kirchengewalt ausübt. So ist die 
Geschichte des Christenthums in ihrem ersten Zeitraume dunkel, 
in dem folgenden das allzu helle Schauspiel eines vom reinen 
Religionsglauben sich mit jedem Schritte mehr entfernenden Kir 
chenglaubens. Statt der Erlösung des Menschen erzeugt dieser 
Glaube den fanatischen Glaubensstreit, die Herrschaft der Prie 
ster, die Verfolgung der Ketzer, die Religionskriege, ein Heer 
furchtbarer Uebel, im Hinblick auf welche man mit dem heid 
nischen Dichter ausrufen möchte: „tantuiu religio potuit sua- 
dere malorum!“ 
Welche von den christlichen Zeiten ist die beste? Offenbar 
diejenige, in welchem der Kirchenglaube sich dem Religionsglau 
ben wieder anzunähern beginnt. Als dieses gute Zeitalter bezeich 
net Kant sein eigenes, die Epoche ächter Aufklärung, die im 
Protestantismus entspringt. Die menschliche Vernunft hat in 
theoretischer Rücksicht ihre Grenze erkannt, sie bescheidet sich mit 
der Unerkennbarkeit der übersinnlichen Welt, sie hadert nicht
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.