Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

469 
der Seele. Der jüdische Glaube macht diese Forderung nicht, 
denn er hat sie nicht nöthig; der Gesetzgeber des jüdischen Glau 
bens hat auf das künftige Leben keine Rücksicht nehmen wollen, 
weil er nichts im Auge hatte als unter der Herrschaft des Glau 
bens ein politisches Gemeinwesen. Endlich das sicherste Kenn 
zeichen des religiösen Glaubens ist seine Universalität, seine unbe 
dingte Gültigkeit für alle Menschen ; das sicherste Kennzeichen 
des Gegentheils ist der Particularismus, die ausschließende Gel 
tung für eine besondere Nation, der Glaube an ein auserwähltes 
Volk: so ist der jüdische Glaube in seinem innersten Grunde nicht 
religiös, sondern bloß theokratisch in politischer Absicht. 
Diese Beurtheilung des jüdischen Glaubens von Seiten Kant's 
unterscheidet den kritischen Philosophen sehr charakteristisch von 
dem früheren Rationalismus der deutschen Philosophie. Die na 
türliche Theologie der Aufklärungszeit stand in ihren deistischen 
Begriffen dem Judenthum näher als der christlichen Religion; 
sie gefiel sich sogar darin, mit ihrer Vorliebe für die Verständig 
keit des jüdischen Gottesbegriffs Staat zu machen gegenüber den 
Mysterien des Christenthums. So viel wir sehen, ist Kant der 
Erste, in dem die rationale Philosophie der neueren Zeit die ent 
scheidende Wendung macht, welche die jüdischen Religionsbegriffe 
fallen läßt gegen die christlichen. Der Grund zu dieser merkwür 
digen Wendung liegt am Tage für die Wenigen, welche die kan- 
tische Philosophie verstehen. Der Grund liegt nicht in einer Vor 
liebe Kant's für die Mysterien der christlichen Glaubenslehre, 
diese Vorliebe konnte wohl einen Hamann bestimmen; der Grund 
liegt allein in Kant's Lehre vom radicalen Bösen in der Men 
schennatur. Diese Ueberzeugung bestimmt und regulirt seine 
ganze Religionslehre, deren Thema kein anderes ist als die Auf 
lösung der Frage: wie ist die Erlösung möglich unter der Be-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.