Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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Menschwerdung Gottes in diesem bestimmten Individuum. Aber 
auch dieser Widerstreit ist nur scheinbar. Der Sohn Gottes ist 
kein Object der äußeren Erfahrung; es giebt kein empirisches 
Kennzeichen, wodurch er sich offenbart. Wenn er auch in der 
Erfahrung und in der Sinnenwelt erscheint, so läßt er sich doch 
nicht durch Erfahrung und sinnlichen Augenschein erkennen; er 
wird als Sohn Gottes erkannt oder geglaubt nur durch seine voll 
kommene Uebereinstimmung mit dem Urbilde der Menschheit in 
uns; nur der Geist in uns giebt von ihm Zeugniß, keine äußere 
geschichtliche Erfahrung. Also ist auch der historische Glaube an 
den Sohn Gottes in seiner Wurzel bedingt durch den rationalen 
Glauben, der gleich ist dem praktischen. Dieses Individuum ist 
der Sohn Gottes, d. h. es ist in seinem Leben und in seiner Lehre 
der vollkommene Ausdruck des menschlichen Urbildes, des mora 
lischen Ideals; es ist darum unser Vorbild, dem wir unbedingt 
nachfolgen, durch dessen Aufnahme in unseren Willen und in un 
sere innerste Gesinnung wir allein erlöst werden können. Hier 
ist der historische, der rationale und praktische Glaube in einem 
Principe verknüpft, sie bilden einen Glauben, in dem sich jene 
Antinomie vollkommen auflöst. 
Es ist klar, wie allein der Gegensatz zwischen Kirchen - und 
Religionsglauben aufgehoben werden kann. Wird er in diesem 
Punkte nicht aufgehoben, so ist er überhaupt unversöhnlich. Der 
rationale Glaube ist mit dem praktischen ein und derselbe. Wenn 
der historische Glaube durch den rationalen bedingt ist, so ist 
zwischen Kirchen- und Religionsglauben kein Widerspruch; gilt 
dagegen der historische Glaube als unbedingt und unabhängig von 
aller Vernunfteinsicht, als Glaube an ein wunderbares Factum, 
so ist der Widerspruch zwischen Kirche und Religion niemals zu 
lösen. Dann sind die Glaubensprincipien beider grundverschie-
	        
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