Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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so können sie auch heute geschehen; wenn Wunder in irgend ei 
ner Zeit wirklichen Glauben verdienen, so müssen sie in jeder Zeit, 
also auch heute, für möglich gehalten werden. Lavater hatte 
Recht, wenn er den Orthodoxen diese Jnconsequenz vorwarf, 
wenn er den Wunderglauben auf alle Zeiten ausdehnte, wenn er 
im Sinne des Wunderglaubens auch heutige Wunder für mög 
lich hielt; Pfenninger hatte Recht, wenn er seinen Freund Lavatcr 
in diesem Punkte vertheidigte. Wer überhaupt an Wunder glaubt, 
der darf ihre Möglichkeit nicht auf ein bestimmtes Zeitalter ein 
schränken, nicht von anderen Zeitaltern ausschließen, der muß 
diese Möglichkeit auch für seine Zeit einräumen. Wenn er es 
nicht thut, wenn er nicht glaubt, daß auch heute noch Wunder 
möglich sind, so beweist er eben dadurch, daß er überhaupt nicht 
an Wunder glaubt. Praktisch, d. h. in seinem Thun, glaubt 
niemand an Wunder; wenigstens handelt er so, als ob sie un 
möglich wären. 
So ist der Wunderglaube, praktisch genommen, in jedem 
Sinne unmöglich; er ist in keinem Sinne praktisch. Ist er 
theoretisch möglich? Das Wunder, theoretisch genommen, ist 
eine Wirkung in der Natur aus übernatürlichen Ursachen, ver 
richtet durch übernatürliche d. h. geistige Kräfte. Diese Kräfte 
können göttliche oder dämonische sein; die dämonischen können 
von guten oder bösen Geistern herrühren, sie sind entweder eng 
lisch oder teuflisch. „Die guten Engel," sagt Kant, „geben, 
ich weiß nicht warum, wenig oder gar nichts von sich zu reden." 
Es bleiben für den■ theoretischen Wunderglauben nur die theisti- 
schen und teuflischen Wunder übrig. 
Ein theistisches Wunder wäre eine Wirkung Gottes im Wi 
dersprüche mit der natürlichen Ordnung der Dinge. Nun können 
wir uns von der göttlichen Wirkungsart nur durch dieOrdnungen
	        
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