Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

404 
3. Die Erbsünde. 
Wir haben das Böse bis zu seiner Wurzel verfolgt, bis zu 
jenem Hange, den sich der menschliche Wille in seiner ersten Rich 
tung gegeben hat, der die in unserer Natur wirksamen Trieb 
federn umkehrt, die Selbstliebe zur Maxime des Willens erhebt 
und in den Mittelpunkt der Gesinnung aufnimmt. Woher rührt 
dieser Hang? Wie erklären wir diesen Ursprung des Bösen? 
Der Grund des Bösen ist die Freiheit. Jener Hang selbst 
ist eine That der Willkür; sonst wäre er ein Trieb der Natur, 
die als solche niemals die Wurzel des Bösen sein kann. Der 
Hang zum Bösen ist selbst schon böse; er ist das radicale Böse. 
Das Böse kann nur aus dem Bösen erklärt werden, nicht aus 
dem, was nicht böse ist: weder aus der Natur noch aus dem 
Guten. Zur Erklärung des Bösen giebt es keine andere Theorie 
als die generatio ab ovo. Der erste Keim zum Bösen ist schon 
die böse Willensneigung selbst. 
Die Freiheit ist eine intelligible Ursache. In der Zeitfolge 
der Begebenheiten giebt es keine Freiheit; in dieser Zeitfolge darf 
daher die Ursache des Bösen niemals gesucht werden. Niemals 
erklärt sich das Böse aus dem vorhergehenden Zustande. Der 
Grund einer bösen Handlung liegt nicht in den früheren Hand 
lungen ; sonst wäre die gegenwärtige eine nothwendige Folge der 
vergangenen und eben deßhalb nicht böse. Der Grund unserer 
sündhaften Beschaffenheit überhaupt liegt nicht darin, daß auch 
unsere Eltern sündhaft waren und auch deren Eltern und zuletzt 
die ersten Menschen, so daß sich das Böse fortpflanzt von Ge 
schlecht zu Geschlecht: eine solche Fortpflanzung wäre Anerbung; 
was wir anerben, ist nicht unsere That, also auch nicht unsere 
Schuld; daher läßt sich das Böse nicht anerben. Hier ist der
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.