Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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so aufrichtig es zu sein scheint, liegt immer noch irgend eine ge 
heime Falschheit; gegen die empfangene Wohlthat regt sich der 
Undank, gegen fremdes Glück der Neid, gegen fremdes Unglück 
die Schadenfreude; selbst das herzliche Wohlwollen ist nicht so : 
rein, daß nicht die Bemerkung möglich wäre: „es sei in dem Un 
glück unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt." 
Das moralische Urtheil selbst wird abgestumpft und durch den 
Schein verblendet und bestochen; wer nicht das Laster unverho- 
len zur Schau trägt, wer den selbstsüchtigen Sinn mit Anstand 
bedeckt, heißt schon gut in der gebildeten Gesellschaft: „hier gilt 
derjenige für gut, der ein böser Mensch von der allgemeinen Classe 
ist." Wenn man die Gesinnungen entblößt, die unter dem Tu 
gendscheine nicht eben tief versteckt sind, und sie ernsthaft und un 
verblendet ansieht, so trifft man jeden an einer Stelle, wo er im 
geheimen Hinterhalt liegt gegen den Andern; mitten im Herzen 
der gebildeten Welt lebt unverwüstlich der alte Naturzustand. 
Diese sittliche Verfassung der Menschen zu erklären, reicht die 
einfache Selbstliebe nicht hin. Es ist die Selbstliebe nicht in ih 
rer einfachen, sondern in ihrer übertriebenen Geltung, es ist die 
zur Herrschaft, zur Maxime erhobene Selbstliebe: die Selbst 
sucht, die nicht im Naturtrieb entspringt, sondern im Willen. 
Nicht bloß in den Einzelnen, auch in den großen Verhältnissen 
der Menschheit führt sie die Zügel. Auch die Völker liegen ge 
gen einander in diesem geheimen Hinterhalt, woraus von Zeit zu 
Zeit die Furie der Kriege hervorbricht, welche die Selbstsucht an 
allen Enden, in allen ihren Gestalten entfesselt und keinen Zwei 
fel darüber läßt, wie es im Innern der Menschen aussieht*). 
So verhält es sich mit dem empirischen Menschencharakter. 
*) Ebendas. Erstes Stück. III. Der Mensch ist von Natur böse. 
— Bd. VI. S. 192 — 195. 
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