Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

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aristotelischen scharf entgegensetzt. Aristoteles betrachtete die na 
türlichen Triebe gleichsam als den Stoff der Tugend und dich 
als deren richtige Form, als deren harmonisches Verhältniß. 
Die Tugend galt ihm als der maßvolle Trieb, als die richtige 
Mitte zwischen den beiden Extremen des Zuviel und Zuwenig. 
Es giebt hier eine natürliche Begierde nach Besitz: wenn dieser! 
Trieb in extremer Weise sich vermindert, so entsteht die Ver< 
schwendung; wenn er in extremer Weise wächst, so entsteht der 
Geiz; wenn er zwischen Verschwendung und Geiz die richtige! 
Mitte hält, so bildet er die Liberalität, welche Sparsamkeit und 
Freigebigkeit in sich vereinigt. Die Liberalität ist Tugend, Vcr-! 
schwendung und Geiz sind Laster. So bildet die Tugend die i 
richtige Mitte entgegengesetzter Triebe, das Gegentheil der Tu- ' 
gend ist der Trieb im Uebermaße entweder der Stärke oder des - 
Mangels. Die Tugend ist der wohlgeformte und maßvolle, das 
Laster der formlose, ungemäßigte Trieb. Der Unterschied zwi 
schen Tugend und Laster ist hier nicht generell, sondern graduell. 
Wenn diese aristotelische Theorie der Tugend richtig wäre, so 
würde folgen, daß man aus der Tugend durch Vermehrung 
oder Verminderung das Laster erzeugen könnte, und ebenso um 
gekehrt aus dem Laster die Tugend; es würde folgen, daß man 
auf dem Wege von einem Laster zu dem entgegengesetzten die Tu 
gend wie eine Station passiren müsse, denn als das Mittlere 
liegt sie auf dem Wege von einem Extreme zum anderen. So 
verfehlt man die richtige Unterscheidung zwischen Tugend und 
Laster und ebenso die richtige Unterscheidung der Laster selbst. Aus 
diesem doppelten Grunde ist die aristotelische Theorie unrichtig und 
unbrauchbar. Der Geiz ist die extreme Habsucht, die Verschwendung i 
soll davon das maßlose Gegentheil sein; als ob die Verschwendung. 
nicht auch habsüchtig, maßlos habsüchtig, also ebenfalls geizig
	        
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