Volltext: Kant's System der reinen Vernunft auf Grundlage der Vernunftkritik [4. Band. Zweite rev. Auflage] (4,2 / 1869)

96 
Sittengesetze scharf und genau zu unterscheiden und nicht selbst 
auf die Seite der Neigungen zu treten, wenn diese zufällig mit 
dem Sittengesetz übereinstimmen. Die Pflicht schließt die Nei 
gungen von sich aus; ebendeßhalb ist sie ihrer Form nach nicht 
Gefühl, sondern Begriff und Idee. Dieser Fassung der Pflicht 
kommt der gewöhnliche Sinn nicht gleich. Aber erst in dieser 
Form erscheint die Pflicht in ihrer wahren Gestalt, unvermischt 
mit allen natürlichen Triebfedern; erst in dieser Gestalt ist das 
Sittengesetz unnahbar, und so muß es in unserer Vorstellung 
leben, wenn das sittliche Bewußtsein fest gegründet sein soll, un 
berührt und unangefochten von den beweglichen Neigungen der 
menschlichen Natur. Zu dieser Fassung des Sittengesetzes, zu 
dieser Befestigung des sittlichen Bewußtseins ist die Moralphilo 
sophie nothwendig. Wir können den Pflichtbegriff nur klar ma 
chen, wenn wir auf das genaueste unterscheiden zwischen Pflicht 
und Neigung; wir können nur so den Pflichtbegriff befestigen. ^ 
Die Neigung nimmt durch eine natürliche Dialektik sehr leicht den ^ 
Schein der Pflicht an, der den gewöhnlichen Sinn besticht und ^ 
verführt. Diesen Schein zerstört die Sittenlehre, indem sie das ^ 
ganze Geschlecht der natürlichen Neigungen aus dem Heiligthurm ^ 
des Pflichtbegriffs vertreibt. Sie giebt dem sittlichen Bewußt- ^ 
sein die Sicherheit, ohne die es schwer ist, sittlich zu sein. Wenn ^ 
nun das gewöhnliche Bewußtsein selbst seine sittlichen Ueberzeugun- ^ 
gen fest und unerschütterlich haben will gegen die Vernünstelei der n 
Neigung und Selbstliebe, so wird es durch dieses sein Bedürfniß 
hingewiesen auf die Moralphilosophie. Diese letztere hat daher ^ 
neben ihrer speculativen Bedeutung auch einen moralischen Werth; ^ 
sie ist nothwendig aus speculativen und praktischen Gründen. Was e j 
aber für eine Wissenschaft soll diese Moralphilosophie sein: em- jj 
pirische Sittenlehre oder Metaphysik der Sitten? n;
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.