Gegen 9 Uhr früh wurde uns gesagt, daß die Staffel zum
Transport bereitstehe und wir in den wenig Vertrauen er¬
weckenden Landesfuhren bis in das Feldspital nach Nagy Polan,
also 24 km zu fahren hätten; wenn dort nicht genug Platz sei,
so müßten wir noch heute bis Takcsany, mehr als 38 km weit.
Die Fahrt war schauderhaft. An die jede Sekunde regelmäßig
zweimal wiederkehrenden Stöße in Längsrichtung und in Quer¬
richtung hätte man sich wohl gewöhnt, aber es gab auch Stol¬
pern, Stoßen, Straucheln, Schwanken. Ich glaube, auch ein
Unverwundeter müßte wohl in dieser fahrbaren Folterkammer
seine Seele aushauchen. Wie weit es nach Polan sei? fragte ich
meinen Kutscher, einen Stockmagyaren, indem ich meine Uhr
zeigte und ,,Polan“ in fragendem Ton aussprach. Er erwiderte:
„Rechts um, links um, rechts um, links um . . .“ und wiederholte
diese vier Worte sage und schreibe sechsunddreißigmal. Ein
Irrtum im Zählen war unmöglich, denn er hob bei jeder Reprise
einen Finger. Nach dem sechsunddreißigstenmal sagte er: Nagy
Polan. Zuerst hielt ich den Mann für verrückt, aber bald er¬
kannte ich, was er meinte: von der Höhe herab schlängelte sich
eine endlose Serpentine, an deren letzter Windung (jedenfalls
der sechsunddreißigsten) die Ortschaft lag.
Bei unserem Decrescendo konnte ich ein Crescendo der all¬
gemeinen Sorglosigkeit konstatieren, man spürte den Etappen¬
raum, den Weg in das Hinterland. Die Serpentine hinauf fuhren
endlose Trains, russische Gefangene zerrten und schoben die
Wagen und halfen den Troßknechten die Pferde aufwärts zu
reißen. Ich freute mich, nicht in Rußland gefangen zu sein,
solche Fron ist schrecklich. Natürlich war in Nagy Polan kein
Platz im Feldspital, und wir mußten unsere Passion noch 14 km
fortsetzen. Es war % 12 Uhr nachts, als ich in Takcsany aus
dem Wagen kroch. Nun erst spürte ich, daß ich schwerver¬
wundet war. In dem bereitstehenden Malteserzug erhielt ich
einen Platz.
19 Kisch, „Schreib das auf“
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