kein Essen, kein Geld, keine Frau, keinen Alkohol gesehen, die
Flüchtigkeit des Lebens und seine Wertlosigkeit erkannt und
noch nie so viel Geld in ihren Händen gefühlt.
Unsere Unterhaltung wurde jäh durch den Befehl zum Auf¬
bruch unterbrochen. Um 9 Uhr abends Abmarsch. Bisher
waren wir immer morgens marschiert, und diese nächtliche Hast
erweckte allerhand Vermutungen. Rückzug? Ein Gerücht:
102 hat zwei Bataillone verloren, gefangen, vermißt, aufge¬
rieben. Authentische Mitteilung der Offiziere: Nein, nur Front¬
veränderung aus taktischen Gründen. Aber im Krieg sind
authentische Mitteilungen nicht mehr wert als Latrinengerüchte.
Die taktischen Gründe werden eben mit Rückzugsgründen iden¬
tisch sein. Auch aus den Reservestellungen wird alles, was kein
Feuergewehr ist, nach hinten befohlen. Train, Stabskompagnie,
Arbeitsmannschaft marschierten ab, sogar die Offiziersdiener
mit den Decken zogen von dannen. Nur die Offiziere des
Generalstabs blieben zurück.
Mittwoch, den 9. Dezember 1914.
Morgens kamen 73 und 11 aus der Schwarmlinie bis zu
unserer Reservestellung zurück, und das Gebäude, das bisher
Divisionskommando gewesen, wurde nun Regimentskommando.
Also steht es schlecht mit uns. Nun ist das Ereignis da, das ich
längst erwartet hatte: der Rückzug. Hoffentlich wird er weniger
furchtbar sein, als die beiden ersten. Die Offiziere bestreiten
überhaupt, daß es ein Rückzug sei. Nur Räumung einer Position.
Über sonnige Hügel marschierten wir ab. Wir kamen über
Sokolova, ein Zigeunerdorf, das von bronzebraunen Kindern
wimmelt, die entweder nackt sind oder ein Hemd von gleicher
Farbe tragen. Das typische „neimas duvana? — Hast du keinen
Tabak?“ klang von den pfeiferauchenden Zigeunerweibern
dringlicher als in den Dörfern mit erbeingesessener Bevölkerung.
Unterwegs bot ich mich einer Ordonnanz an, eine Aktenmappe
des Divisionskommandos zu tragen. Ich hatte nämlich bemerkt,
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