Volltext: Alt-Wien [72/73/74]

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unmittelbarem Wege, nicht durch den Kanal des Gedankens die 
Empfindung anregt. Dies wunderliche Wort: man kann ein 
musikalisches Genie und ein Dummkopf in einer Person sein, 
kommt ihm zustatten. Hiemit soll ihm keine Beleidigung, s ondern 
eine Gratulation gesagt sein: ich weiß nicht, was er außer Noten 
—D— 
könnte, wenn er Rousseausche Ideen geigte; die Wiener machten 
in einem Abende den ganzen Contrat social mit ihm durch. ... 
Es ist bemerkenswert, daß die österreichische Sinnlichkeit 
nie gemein aussieht, sie ist naiv und keine Sünderin. Die dortige 
Lust ist die Sünde vor dem Sündenfalle, der Baum der Er— 
kenntnis hat noch keine Definition, kein Raffinement, nötig ge⸗ 
macht. 
Bunt wogt die Menge durcheinander, die Mädchen drängen 
sich warm und lachend durch die muntern Burschen, ihr heißer 
Atem spielte mir, dem fremden Säulenheiligen, wie ein südlicher 
Blumenstrauß um die Nase, die Arme drängten mich mitten 
ins Getümmel — um Verzeihung bittet niemand; beim Sperl 
will man keinen Pardon und gibt keinen. 
Nun werden die Anstalten zum wirklichen Tanze gemacht. 
Um die zügellose Menge in Schranken zu weisen, wird ein 
großes Seil hergenommen, und alles, was in der Mitte des 
Saales bleibt, wird von den eigentlichen Geschäftsleuten, den 
Tänzern, getrennt. Die Grenze ist aber schwankend und nach— 
giebig, nur an den gleichmäßig wirbelnden Mädchenköpfen 
unterscheidet man den Tanzstrom. Bacchantisch wälzen sich die 
Paare durch alle die zufälligen oder absichtlichen Hindernisse, 
die wilde Lust ist losgelassen, kein Gott hemmt sie, nicht einmal 
die Glut, welche still und eindringlich hin und her wogt, wie ein 
vom Afrikaner herabgesendetes Wüstenmeer. 
Charakteristisch ist der Anfang jedes Tanzes. Strauß be— 
ginnt seine zitternden, nach vollem Ausströmen lechzenden 
Präludien, sie klingen tragisch wie eine noch vom Schmerz der 
Geburt umklammerte Glückseligkeit; der Wiener legt sich sein 
Mädchen tief in den Arm, sie wiegen sich auf das wunderlichste 
in den Takt. Man, hört noch eine ganze Weile diese lang— 
behaltenen Brusttöne der Nachtigall, mit denen sie ihr Lied an— 
hebt und die Nerven bestrickt, bis plötzlich der schmetternde 
Triller hervorsprudelt, der eigentliche Tanz beginnt mit seiner 
ganzen kosenden Geschwindigkeit, und hinein in den Strudel 
stürzt sich das Paar. ...
	        
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