Volltext: Sperrfeuer um Deutschland

sagen fann: „Der Gegner tyat das Dorf L. genommen." Oder: „Der Gegen- 
angriff der x.-Division hat vierhundert Meter Raum bis zum Steenebeek ge¬ 
wonnen." 
In 'Wirklichkeit ist das alles nicht richtig und nur ein Begriffsnotbehelf. 
Es gibt weder das Dorf L. noch den Steenebeek-Grund. Es ist auch kein Gegen- 
angriff im Sinne taktischer Erfahrungen gewesen. Einzelne Menschengruppen, 
darunter in der Mehrzahl Leute der x.-Division, die gestern etwa in diesen: 
Streifen eingesetzt worden ist, sind hinter dem Sperrfeuer aus ihren Trichtern 
in andere Trichter vor ihnen gekrochen. Nach Fliegeraufnahmen ist man etwa 
vierhundert Meter vorwärtsgekommen. Viele Leute haben gar nicht gewußt, 
daß ein Angriff unternommen werden sollte. Sie haben sich der Bewegung an- 
geschlossen. Bei anderen ist es nur der Drang gewesen, der Materialzone nach 
vorwärts zu entweichen. 
Es gibt keine Linie. Auch die Flieger können mit ihren Lichtbildern nur 
einzelne verstreute Trupps feststellen. TDas sich vorn begegnet und dem Rampfe 
die örtliche äußere Veränderung aufprägt, sind nur letzte, kaum noch bewegliche 
Ausläufer geschlossener, disziplinierter Massenbewegungen, die weit hinten an¬ 
gesetzt wurden und dann durch die Zone der Materialwirkung wie durch ein 
stählernes Sieb gegangen sind. Das meiste blieb in dem Sieb hängen. Die 
ursprüngliche Konzentration ist ganz aufgelöst, die Rräfte der Bewegung sind 
gelähmt, pulverisiert, zerbrochen. 
Später, als die Schlacht ihren Gipfel erstieg, entwickelte sich bisweilen der 
Zustand, daß von der hinten angesetzten Bewegung überhaupt nichts bis nach 
vorn durchdrang. Das Material erstickte alles, die lebendige Äraft blieb in dem 
Sieb hängen. Vorn war die Einöde, der tote Raum, das Niemandsland. Auf 
beiden Seiten raste das Chaos blindwütig, sinnlos, ungestalt und nicht mehr 
hemmbar. 
In solchen Fällen überschlug sich die Materialschlacht und schuf ihr eigenes 
Paradoxon. Das Material blieb allein. Eine furchtbare, rasende, energie- 
geladene und nur aus Explosionen bestehende Macht — und doch tot, seelenlos, 
unfähig zu jeder eigenen Handlung wie ein Stein, der seit Jahrtausenden auf 
der gleichen Stelle liegt. Zwei blinde Riesen, die mit dem Rücken gegeneinander- 
stehen und sich dadurch bekämpfen, daß sie mit Steinen nach vorn werfen, wo 
jeder den Gegner vermutet. 
Wie soll man diese Schlacht beschreibend Obwohl eine Zusammenwirkung 
tausend lebendiger Rräfte und Energien, eine Unsumme konkreter Vorgänge, 
ist sie als Ganzes doch fast etwas Abstraktes, nicht Greifbares. 
Die örtlichen Veränderungen, die sie hervorruft, sind so geringfügig, daß sie 
belanglos erscheinen. Der einzelne Rampfvorgang unterscheidet sich in nichts 
vom andern. Es ist eine monotone und endlose 'Wiederholung des gleichen 
Bildes. Als einziger sichtbarer Ausdruck tritt immer wieder das Artilleriefeuer 
in Erscheinung. Sichtbar? Auch das ist in seiner Zusammensetzung so dicht, so 
grau, so einförmig, daß es zu einem dunstigen Schleier wird, der über dem 
Trichterfeld liegt und die Materialzone bezeichnet. Ob bei Bikschoote, bei 
Langemarck, bei passchendaele oder bei Gheluvelt — weder der Boden, auf dem 
es sich abspielt, noch der Vorgang, der abrollt, verändert sich. Alles ist so unper- 
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