Volltext: Heinrich Wottawa

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ruhender Meister, der große Symphoniker Anton Bruckner, bei 
welchem ich teils am Konservatorium, teils an der k. k. Uni 
versität die Harmonielehre und den Kontrapunkt hörte, Pflegte 
öfters zu sagen: „Der vierstimmige Satz ist das wichtigste in 
der ganzen Komposition; wer mit ihm umgehen kann, für den 
bietet alles andere keine Schwierigkeiten mehr." Diesen Aus 
spruch in tbeoietiois möchte ich zugleich als einen Grundsatz in 
praetieis bezüglich des Klavierspieles gelten lassen. 
Die Unabhängigkeit der Finger, deren bester Prüfstein in 
der Vierstimmigkeit der I. S. Bachschen Klavierkomposition, vor 
allem des „wohltemperierten Klaviers", zu suchen ist, bleibt für 
immer das eigentliche Ziel jedes Klavierunterrichtes. Auf dieser 
Unabhängigkeit fußt alle moderne Technik, die z. B. Melodie 
und Begleitung (Figuren oder Füllstimmen) vorzugsweise in 
eine Hand legt oder jede für sich von einer in die andere Hand 
übernimmt und vielfach doppelgriffiges Spiel beansprucht; neben 
diesen Fertigkeiten kommt eigentlich nur noch die Technik des 
Handgelenkes in Betracht, infoferne Tonleitern und Akkord 
zerlegungen mit ihren Verbindungen nicht als Souderübungen 
aufgefaßt werden. Wenn also der „strenge Satz" nicht nur für 
den Kopf, auch für die Finger das Schlagwort der Selbständig 
keit ist, so erhellt daraus, daß der Anfänger im Klavierspiele 
nach jenen Grundsätzen geleitet werden muß, die ihn am sicher 
sten dem angedeuteten Ziele zuführen. Heute, da wir von der 
nur höchst wünschenswerten pflichtgemäßen Einführung der 
Habertschen Klavierschule wohl noch weit entfernt sind, werden 
gewöhnlich erst im dritten Jahre des Klavierunterrichtes Bachs 
„Kleine Präludien und Fugen" begonnen. Vorher geht nichts, 
was hierauf vorbereitend in dem Sinne gelten könnte, daß dem 
Schüler die strengere Form des Klaviersatzes bereits bekannt 
wäre und er — statt vor den klassisch-reinen Tongebilden des 
großen Thomas-Kantors im Widerwillen zu verharren — die 
selben als bekannte Erscheinungen mit Liebe erfassen und be 
wundern lernen würde. Auf Seite 278 im 4. Teil seiner Klavier 
schule hat Habert einige der „Kleinen Präludien" von I. S. Bach 
eingereiht; dorthin aber hat er seinen Schüler vom Anfange 
der Schule an im Geiste Bachs geführt — das heißt in 240 
Uebungsstücken vorher hat er — und zwar in der denkbar be 
währtesten und anmutigsten Form — die Mittel zur Anwendung 
gebracht, die den strengen Satz und sein Verständnis vorbereiten. 
Schon im 21. Beispiele findet sich — dem Schüler noch un 
bewußt — der Reiz der Imitation, im 25. schon ein doppelter 
Kontrapunkt verwendet; am Ende des 1. Teiles mit seinen 35 
zwei- und vierhändigeu Uebungsstücken und 31 genial erdachten 
Fingerübungen im Raume einer Quinte in verschiedenen Lagen 
(e—g-, ss- ä, 1-e, cl—a usw.) hat der Schüler die Noten des 
Violinschlüssels von F bis Z bereits vollständig erlernt und dazu
	        
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