Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

210 Die Kämpfe an der Westfront bis Mitte Januar 1915 
daß er sie gesucht hat. Er hat sich nie um sie bemüht. Die modernen Künste der Reklame 
verachtet er. Jede theatralische Haltung ist chm fremd. Er verabscheut es, sich in Szene 
zu setzen. Er ist zu sehr Mathematiker und Geometer, um Redensarten zu machen. Er 
denkt, spricht und handelt so schlicht, daß er immer an Theoreme erinnert. Nach der 
Schlacht an der Marne sagte ihm einer seiner Generalstabsoffiziere: „Wissen Sie, mein 
General" (in Frankreich kennt die Heeressprache keine Exzellenz), „daß Sie den größten 
Sieg der Weltgeschichte errungen haben? Was können Sie jetzt noch wünschen?" Er 
erwiderte: „Die baldige Ruhe in meinem Häuschen der Niederpyrenäen." Und er 
meinte, was er sagte. 
Als er es nach der verlorenen Schlacht von Charleroi für nötig hielt, vor den sieg 
reichen deutschen Heeren in fluchtähnlichen Eilmärschen bis an die Aisne und die Marne 
zurückzuweichen, tat er, was nach seiner Ansicht die Lage erforderte, ohne sich lange die 
Frage vorzulegen, was das französische Volk zu diesem Rückzug fast bis in die Be 
festigungslinie von Paris sagen würde. Seit Monaten hält er sich von Compiegne und 
Soissons, über Argonne und St. Mihiel bis zur Grenze bei Mosselbrück, ebenso 
an der Lys und Äser, von Nieuport über Dixmuiden bis Arras in einer Ver 
teidigungslinie, die, von einigen aus- und einspringenden Winkeln abgesehen, in der 
Hauptsache unverändert geblieben ist. Er fühlt die Ungeduld um sich wachsen. Er hört 
die von Hunderten in seiner Umgebung geflüsterte Frage: „Worauf warten wir, um 
vorzugehen?" Obschon er keine Zeitungen liest, weiß er doch, daß täglich in Dutzenden 
Leitartikeln immer nachdrücklicher darauf angespielt wird, daß die Natur des fran 
zösischen Soldaten den Angriff fordert und daß dessen beste Eigenschaften in der Ver 
teidigung verkümmern oder mindestens brach liegen. Es ist ihm bekannt, daß man ihn 
den Zauderer nennt und daß nicht jeder den Titel Cunctator als eine Lobpreisung ge 
braucht. Er läßt all das sich nicht anfechten. Er folgt seinem eigenen Gedanken und 
weicht den anderen zu Gefallen nicht um Haaresbreite von ihm ab. Und die Soldaten 
verstehen chn oder glauben ihn zu verstehen. 
Ueber seine Feldherrnbegabung wird man erst urteilen dürfen, wenn der Feldzug 
als Ganzes abgeschlossen vor den Augen des Geschichtsschreibers liegt. Bis jetzt hat er 
keine auffallende Originalität verraten. Alle Philosophen des Krieges, von Friedrich 
dem Großen, Napoleon, Jomini, Clausewitz bis Moltke, v. d. Goltz und den jüngeren 
Moltkeschülern, haben immer als das erste Gebot des Führers gelehrt, seinen eigenen 
Willen dem Feinde aufzunötigen. General Joffres Strategie gehorcht diesem Gebote 
nicht. Er hat bisher nicht ein einziges Mal den Versuch gemacht, seinen Willen gegen 
den der deutschen Heeresleitung durchzusetzen*). Er hat alle seine Anstrengungen darauf 
gerichtet, zu verhindern, daß die deutsche Heeresleitung ihren Willen ausführt. Um es 
kurz auszudrücken: seine Strategie war bisher nicht positiv, sondern negativ. Zu Beginn 
des Feldzuges versuchte er, einen eigenen Plan zu verwirklichen. Er brach in das Ober- 
elsaß ein. Der Plan erlitt vollständigen Schiffbruch. Sein Heer mußte das Elsaß 
räumen und unter schweren Verlusten über die Grenze zurückgehen. Er behielt kalt 
Blut, setzte mit einer harten Bestimmtheit, die kein Zögern kannte, Generale ab, die sich 
nicht bewährt hatten, ernannte an ihrer Stelle andere, die man jetzt in Frankreich mit 
Stolz nennt — die Foch, Michal, Sarrail, Maud'huh, Maunoury, Dubail —, und 
stellte die Lage wieder her. Manche Sachkenner entschuldigen seine Fehler vom August 
damit, daß er damals mit einem höchst unvollkommenen Werkzeug arbeiten mußte, mit 
einem ungenügend zahlreichen, wenig geübten, mangelhaft bewaffneten und mittelmäßig 
geführten Heere, und daß seitdem alle diese Bedingungen sich sehr gebesiert haben. Jeden 
*) Dieser Aufsatz ist im Dezember 1914 vor dem Bekanntwerden der großen Joffreschen Offen 
sive geschrieben worden.
	        
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