Volltext: Der Völkerkrieg Band 2 (2 / 1915)

Das deutsche Volk 
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Erntemond 1914 
Von Erich Vogeler 
Hoch steht die Zeit. Der Schatten einer Riesensense fällt über das Land. 
„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, 
Er mäht das Korn, wenn's Gott gebot"... 
Auf der breiten Veranda des Gutshauses steht die Herrin, die Mutter, die deutsche 
Frau. Zwei Söhne sind längst im Feld. Heute geht der dritte, Kriegsfreiwilliger, zu 
den Waffen. Die letzten Rosen, rote Dahlien und Malven hat sie auf den Kaffeetisch 
gestellt, Ihre Hand hat nicht gezittert. Sie wird auch nicht zittern bei dem letzten Lebe 
wohl. Ruhig streicht sie die weiße Kaffeedecke glatt. 
Sie lehnt an der Brüstung und schaut hinaus über die weiten Felder, die in der Spät 
sommersonne liegen, mit den letzten gelbbraunen Roggenmandeln, mit den heißen 
graugelben letzten Haferhalmen, die vor Reife klirren. Sensen singen das Lied vom 
Lose alles Sterblichen. 
Klaglos liegt die Erde, die alles tragende, nimmer ermattende Erde, stumm das Gesetz 
erfüllend, mit jedem Sterben nur das Gesetz des Lebens erfüllend. Die Saat ihres 
Schoßes sah sie wehen im süßen Frühlingswind, sah ste steigen, reifen zu voller, schwerer 
Frucht, und sieht sie niedersinken unter dem herben Schnitt der Sense. Leer steht die 
Erde, stumm harrend auf das scharfe Pflugeisen, das ihr das Herz aufreißt, neu zu 
empfangen Saat, Sorge, Blühen, Duft und Sterben... 
Ruhig sehen die Augen der Mutter über die weiten Felder, ruhig, wie nur Mütter 
sind, wie nur die ewige Natur es ist, die Mutter Erde. 
Durch den Garten geht eine Tagelöhnersfrau. Ihr Mann ist mit der Landwehr fort. 
Hoch trägt sie reife Frucht unter ihrem Herzen. 
Da kommt an den Malvenstöcken her mit dem braunen, erhitzten, gesunden Gesicht 
der Sohn. „Alles geht gut, sie kommt glatt herein, die Ernte; in ein paar Tagen ist kein 
Halm mehr draußen!" Und zufrieden setzt er sich an den Kaffeetisch. Durch das Laub 
der weißen Kletterrosen tanzen goldene Sonnenkringel über die roten Dahlien und Mal 
ven und über den braunen Erntekuchen, den die Mutter ihm zum Abschied gebacken. 
Zum Abschied in das große Erntefest des Todes. 
Es war ein merkwürdiger Erntemond dieses Jahr. 
Rings klangen die Sensen unter der Kuppel des Tages, von Sonnenaufgang bis 
Niedergang; Mandel an Mandel stand golden und breit der Garben Fülle; schwankend 
hochbeladen kamen die Wagen auf den Hof gefahren. 
Da auf einmal legten die Männer die Sense fort mitten im Fall der Schwaden; ohne 
Gespann standen die vollen Wagen; der Gesang der Mägde verstummte, sie ließen den 
Erntekranz aus Weiderich und Königskerzen auf den Boden fallen.... 
Alle Männer, Gutsherr und Tagelöhner, der Großknecht, der Kleinknecht, Maschinist, 
Melker und Eleve, Bauer, Kossäthe, Büttner, Häusler, der Schmied, der Stellmacher, 
und all die schönen starken braunen Ackerpferde, alle zogen sie fort von Haus und Hof 
und Feld. Und auf der Dorfstraße standen die Frauen mit großen erstarrten Augen und 
blickten ins Leere; Mütter drückten stumm verängstigte Kinder an das Herz, Bräute 
jammerten, die blauen Schürzen vor den Augen, und manche gutherzig leichtsinnige 
Dirne rang verzweiflungsvoll die Hände. 
Verlassen, verlasien stand der Hof, verlassen die Straße, verlassen standen die Felder, 
die vollen, reifen, fruchtbaren Felder. Was wird nun aus der Ernte? 
Entschlossen zwang wohl die Jungmagd ein Joch Ochsen ins Gespann, mit der 
schieren Kraft ihrer Glieder; vom Altenteil humpelte der Großvater, die Sense noch ein 
mal zu proben mit den morschen Knochen. Wie sollten ganze vier Arme die Ernte zwingen?
	        
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