Volltext: Der Völkerkrieg Band 1 (1 / 1914)

England während der Mobilmachung 
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oder es wird zu spät sein. Fragt Euch selbst: warum sollen wir in den Krieg ziehen? 
Die Kriegspartei sagt: „Wir müssen das Gleichgewicht der Kräfte aufrecht erhalten, 
denn wenn Deutschland Holland oder Belgien annektiert, wird es so mächtig sein, daß es 
auch uns bedroht." Aber die Kriegspartei sagt Euch nicht die Wahrheit. Es ist vielmehr 
Tatsache, daß, wenn wir an der Seite Frankreichs und Rußlands kämpfen, das Gleich 
gewicht der Mächte gestört werden würde wie nie zuvor. Wir würden Rußland zu der 
gewaltigsten militärischen Macht auf dem Kontinent machen, und Ihr wißt, was für eine 
Macht Rußland ist. Es ist Eure Pflicht, das Land vor dem Verderben zu retten. Han 
delt, bevor es zu spät ist." Der Aufruf ist im Namen der Neutrality League erlassen und 
von einer Reihe bekannter Engländer und Engländerinnen unterzeichnet. 
Ein anderes Flugblatt ist betitelt: „Warum sollen wir für Rußland kämpfen?" „Wenn 
England in den Krieg zieht, werden wir Rußland helfen, den europäischen Kontinent zu 
beherrschen. Rußland ist das Land, zu dessen Bekämpfung wir im Krimkrieg 50 Mil 
lionen Pfund hingegeben haben. Rußland ist das Land, das unser indisches Reich bedroht. 
Rußland ist das Land, das erst in der letzten Woche friedliche Bürger in den Straßen 
seiner Städte hat niederschießen lassen. Rußland ist das Land, das der Feind aller fort 
schrittlichen Ideen ist und der Feind der englischen Wünsche nach Ehrlichkeit und 
Gerechtigkeit. Was ist die größere Gefahr für England: 65 Millionen Deutsche, von 
unserem Blut und mit denselben Empfindungen wie wir, die sich in Handel, in Industrie 
und in friedlichen Unternehmungen betätigen, oder 170 Millionen Russen, Sklaven einer 
verderbten Autokratie, die nur zum Gebrauch chrer Macht verwendbar sind? Ein Krieg 
für Rußland ist ein Krieg gegen die Zivilisation." 
Man sieht: das Wort „Rußland" ist es, das beschwörend immer wiederkehrt. Der 
bekannte Schriftsteller Arthur Holitscher, der Anfang August in London weilte, schreibt: 
„Frankreichs, Belgiens, Italiens Fahne, Hollands Fahne, die Fahne der Schweiz und 
die Fahne Portugals wehten an allen Ecken und Enden. Eine Fahne allein fehlte. Zu 
Ehren des englischen Volkes und zum Schimpf der Machthaber Englands schreibe ich es 
hier nieder: ich habe in dieser ersten Augustwoche in London nicht eine russische Fahne 
wehen gesehen, habe nicht einen einzigen Engländer gesprochen, der nicht die Augen 
niedergeschlagen hätte, verstummt wäre, sobald ich den Namen Rußlands aussprach." 
Von Rußland hat auch Grey in jener denkwürdigen Unterhaussitzung vom 3. August 
nicht gesprochen. Ramsay M a c d o n a l d hat in seiner nachträglich bekannt ge 
wordenen Antwortrede sofort darauf hingewiesen. Er sagte: „Grey hat davon gesprochen, 
was „Englands Ehre" erfordere. Es gibt wohl keinen Krieg, auch nicht den verbrecherisch 
sten, für den sich nicht Staatsmänner auf die Ehre der Nation berufen hätten. So war es 
mit dem Krimkrieg, so mit dem Burenkrieg, und so ist es jetzt. Was hat es für einen Sinn, 
zu sagen, wir müßten Belgien helfen, wenn wir in Wahrheit uns in einen Krieg 
einlassen, der Europas Karte ändern muß? Grey hat nicht ein Wort von Rußland ge 
sprochen; aber man möchte auch darüber gern etwas hören. Wir möchten eine Vor 
stellung davon haben, was geschehen wird, wenn die Macht in Europa an Rußland über 
geht. Unsere Freundschaft mit Frankreich, auch so wie Grey sie schildert, kann keins der 
Länder berechtigen, sich um des andern willen in einen Krieg einzulassen. Der Gedanke, 
daß Frankreich in Gefahr käme, aus Europa vertilgt zu werden, daß es nicht mehr seine 
Rolle in der Zivilisation spielen könnte, ist eine absolute Absurdität; Grey hat ja auch 
gesagt, daß Frankreich imstande wäre, sich selbst zu verteidigen. Aber der Gedanke selbst 
ist eine Ungereimtheit und kann keineswegs ein Eingreifen in den Krieg von unserer 
Seite rechtfertigen. Ich weiß, daß wir die Majorität des Hauses gegen uns haben; aber 
so war es auch beim Burenkriege, und darauf folgte der große Umschlag von 1906. Wir 
bereiten uns nun darauf vor, dasselbe durchzumachen wie damals. Was auch geschehen
	        
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