Volltext: Der Völkerkrieg Band 1 (1 / 1914)

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Während des Aufmarschs 
wichtigen Posten wohl von vornherein nur als Sprungbrett zur leitenden Stelle. Anderer 
seits mußte er sich sagen, daß er bei seiner notorischen Unzuverlässigkeit im gewöhnlichen 
Lauf der Dinge nie dies höchste Ziel seines schrankenlosen Ehrgeizes erreichen könne. 
So wurde er in aller Stille das Haupt der Kriegspartei, wenn er auch gelegentlich 
seine auf den Umsturz aller Verhältnisse sich richtenden Bestrebungen unter Abrüstungs 
vorschlägen und dergleichen geschickt zu verbergen verstand. Den heimlichen Kriegs 
abmachungen mit Frankreich folgte im Sommer das Flottenabkommen mit Rußland, 
wenn auch Grey mit eiserner Stirn im Parlament alles rundweg ableugnete. Wie es 
im entscheidenden Augenblick dem kriegerischen Flügel des Kabinetts gelang, die fried 
lichen, durch Irland schon längst zermürbten Kollegen zu überstimmen und wie das 
Taschenspielerkunststück der belgischen Neutralität dem Parlament als das rote Tuch 
hingehalten wurde, das mußte die Welt schaudernd erleben. 
Europas Gegenwart und Zukunft schien bisher auf zwei festen Säulen zu ruhen, auf 
Deutschland und England. Es lag in der Natur der Dinge, daß das gewaltige Empor 
kommen des vom selbstbewußten Briten bisher teils verachteten, teils bemitleideten 
kontinentalen Vetters bei jenem Neid und Mißgunst erregte. Wenn wir gerecht sein 
wollen, müssen wir ferner einräumen, daß seit einer längeren Reche von Jahren eine 
unklare deutsche Politik dies Verhältnis noch verschärfte. Bei uns glaubte man anfangs 
dauernd zwischen London und Petersburg lavieren zu können, man erkannte, daß das 
alte Bismarcksche Kontinentalrezept nicht mehr anwendbar, daß unsere maritime und 
kommerzielle Ausdehnung eine Anlehnung an das seegewaltige England erheischte, daß 
unsere Flottenrüstungen, über ein gewisses Maß hinausgehend, selbst dem friedlichsten 
Engländer bedenklich erscheinen mußten. Alles wurde durch viele rednerische und Preß- 
entgleisungen noch recht ins Licht gesetzt, so daß sich die germanische Invasion dem in 
kontinentalen Dingen höchst kurzsichtigen Durchschnittsengländer zum Dogma gestaltete. 
Außerdem versuchten wir in London ebensowenig wie in Paris eine energische Gegen 
wirkung und glaubten trotz allem die sich immer klarer entwickelnde russische Todfeind 
schaft durch die alten, kleinen, dynastischen Hausmittelchen und beständige Konzessionen 
beschwören zu können. 
Das überaus traurige Ergebnis liegt nun vor unseren Augen, wir sind Feinde ge 
worden. Auch England, das sich hinter seinen hölzernen, jetzt eisernen Mauern von jeher 
so sicher wähnte, wird erfahren, was Deutschland für ein Gegner sein kann. Es ist nur 
zu wünschen, daß diese Gegnerschaft sich beiderseits in ritterlichen Formen bewege. Dem 
„großen deutschen Volk" wenigstens, dem Bulwer seinen schönsten Roman als „dem 
Volke der Dichter und Denker" widmete, wird trotz allem ihm vom offiziellen England 
jetzt angetanen Herzeleid unvergeßlich bleiben, wie nahe ihm der englische Vetter kul 
turell steht. Hoffen wir, daß auch alle billig denkenden Engländer gleiche Gefühle be 
seelen; denn bei längerer Dauer der Feindschaft der beiden führenden Völker ist das 
Schicksal Europas besiegelt. 
England während der Mobilmachung 
Die Kriegsunlust in England 
Schon in den Tagen vor der Kriegserklärung bezeugten zahllose Flugblätter, 
die in den Straßen Londons verteilt wurden, daß weite Kreise des englischen Volkes 
einen Krieg gegen Deutschland nicht nur nicht billigten, sondern geradezu verabscheuten. 
„Engländer," heißt es in einem derartigen Aufruf, „tut Eure Pflicht und haltet Euer 
Land fern von einem schmählichen und unsinnigen Krieg. Eine kleine, aber mächtige 
Clique will Euch in diesen Krieg treiben. Ihr müßt diese Verschwörung vernichten,
	        
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