Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Die große Offensive zwischen der unteren und oberen Weichsel bis zum Fall von Warschau 175 
Personen waren in den öffentlichen Lokalen unsichtbar, nur Offiziere und Damen ver 
kehrten dort. Die Theater waren gesperrt. Nur die Kinos waren besucht. Der Mob 
plünderte im Einverständnis mit der Polizei die verlassenen Wohnungen und leerstehende» 
Fabriken. Die Scheunen in den Vorstädten, wie Wola, Czyste, Ochota, waren in Möbel 
lager verwandelt, wo im geheimen Wertsachen lizitiert wurden und Polizisten einander 
gegenseitig verhafteten und von einander gegenseitig Bestechungsgelder erpreßten. Agenten 
der Ochrana organisierten aus dem Abschaum des Pöbels und importiertem Gesindel 
Franctireurs. Auch wurden aus Dächern und in den Bodenluken Maschinengewehre 
aufgestellt. Viele Verbrecher wurden aus den Gefängnissen entlassen und in den Dienst 
der Ochrana berufen. Vergebens mahnte die Presse zur Besonnenheit und versuchte dem 
Treiben der dunkeln Elemente entgegenzutreten. Grauenerregende Gerüchte wurden von 
Agenten verbreitet, so daß die Deutschen Kinder auf ihre Lanzen aufspießten, daß sie 
russische Soldaten verstümmelten, Verwundete zu Tode marterten, Zivilpersonen auf den 
Straßen absangen und vor den Kirchen niederschießen usw. Die Nächte waren schreck 
lich. Um 8 Uhr mußten die Haustore gesperrt werden. Nur Militärpersonen und 
verdächtiges Gesindel trieben sich in den Straßen herum. Die Hausbesorger standen 
sämtlich im Dienste der Ochrana. Immer wieder läuteten die Glocken an den Türen. 
Leute wurden aus den Betten gezerrt, Revisionen, Verhaftungen unter dem nichtigsten 
Vorwand fanden beständig statt. 
Ein recht lebhaftes Bild von den letzten Russentagen in Warschau entwirft auch der 
Korrespondent der „Chicago Daily News" beim russischen Hauptquartier. Er schreibt 
nach der Uebersetzung der „Frankfurter Zeitung": „In Warschau selbst wurden Zehn 
tausende von Haushaltungen von einem Tag aus den andern aufgelöst. Hand in Hand 
mit der Räumung wurde alles, was dem Feind hätte von Nutzen sein können, besonders 
Metallmaschinen, entweder weggebracht oder zerstört. Fabriken wurden in fieberhafter 
Eile entleert und den Fabrikanten unentgeltlicher Abtransport nach dem Osten gewährt, 
für alles, was sie retten konnten. Tag und Nacht hörte man das regelmäßige Krachen 
von in die Luft gesprengten Fabriken, deren Entleerung nicht möglich war. Jedes 
Bruchstück der so gesprengten Metallteile wurde mit der Eisenbahn nach Rußland gebracht. 
Die Warschauer Zeitungen sagten in ihrer letzten Ausgabe die Räumung der Stadt 
an; dann wurden ihre Maschinen abmontiert und fortgeschafft. Polizei und Militär 
untersuchte jede Druckerei und jede Redaktion, nahm die Typen mit sich und sorgte für 
die Außerstandsetzung der Druckerpressen. Kaum eine Tonne Kupfer blieb in der Stadt. 
Ueberall in den Postämtern, Banken,Telegraphenämtern, Gerichten und bei den verschiedenen 
städtischen Behörden war man eifrig mit dem Aufbruch beschäftigt. Auf den Straßen 
bewegten sich endlose Reihen von Wagen aller Art schwer beladen nach Prag« und über 
die verschiedenen Weichselbrücken. ... Die Portale der Kirchen blieben ständig offen, die 
Gotteshäuser waren überfüllt von jammernden und betenden Polen und Russen. Alle 
Kirchenglocken, Archive, Schätze, edelsteinbesetzte Ritualgegenstände, Vorhänge usw. sollten 
über die Weichsel nach Rußland weggeschafft werden. Man erzählt, daß die Gruft der 
Kirche vom Heiligen Kreuz mit Brecheisen geöffnet und das dort aufbewahrte Herz 
Chopins nach Moskau gebracht worden sei . . ." 
„Die letzte Nacht unter russischer Herrschaft schien den Warschauern endlos," erzählt 
Dr. Wilhelm Feldmann im „Berliner Tageblatt". „Sie hatten schon am 4. August 
zu ihrem Vergnügen bemerkt, daß die Russen den endgültigen Abmarsch begannen. 
„F. m. F.!" flüsterten die Juden sich freudig zu und rieben sich verstohlen die Hände. 
„F. m. F." war seit einiger Zeit bereits das freudige Losungswort der Warschauer Juden. 
Es bedeutet: „Fohnje (Spottbezeichnung für den Russen) macht Fieß'" (macht sich aus 
die Füße). Aber was konnte „Fohnje" in der letzten Nacht noch alles anstellen!"
	        
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