Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Rücktritt des Kabinetts Viviani und Bildung des Kabinetts Briand 295 
zur Unterdrückung einer typischen sozialistischen Bewegung haben ihm seine früheren Parteifreunde 
nie verziehen. Seinem Parteigenosfen Jaurös aber antwortete er auf seine Vorhaltungen: „Wenn 
das Wohl der Nation es erforderte, würde ich selbst zu ungesetzlichen Maßregeln gegriffen haben." 
Briand, der frühere Advokat, handhabt, seinem Vorgänger Viviani ähnlich, das Instrument der 
parlamentarischen Beredsamkeit mit glänzender Virtuosität und ist sicherlich eine der kraftvollsten 
Persönlichkeiten der dritten Republik. „Man sagt von ihm", schreibt Gustave Herve, Briands Jugend 
freund aus längst vergangenen anarchistischen Tagen, nach dem „Bund" (29. X. 1916), „daß er etwas 
bequem sei und nicht über ein universelles Wissen verfüge. Jawohl; aber er ist so klar! Er ist 
so tätig, trotz seiner anscheinenden Bequemlichkeit. Er ist so unterrichtet, trotz seines geringen 
Bücherwissens. Er ist dem Herzen unserer republikanischen Demokratie so nahe, trotz allem, was wir 
schon über ihn gesagt haben. Er hat so viel Verführerisches im Wort und so viel Entschiedenheit im 
Wollen!" „Aristide Briand, der ein gerissener Parlamentkünstler sein mag, aber gewiß im Boudoir 
der Comedie Fran^aise besser Bescheid weiß, als in europäischer Geographie, hat," wie ein ehemaliger 
Pariser Mitarbeiter des „Neuen Stuttgarter Tagblatts" (2. XI. 1915), erzählt, „als ihn ein kleiner 
unsittlicher Provinzskandal aus dem Advokatenstand nach dem Streikrevier Saint-Etienne und von da 
als Deputierten in die rote Ecke des Palais Bourbon gewirbelt hatte, all die schönen revolutionären, 
später die antiklerikalen und schließlich die gouvernementalen Reden, die ihn so berühmt gemacht haben, 
seiner Zigarette entsagen. Aus Büchern und von eifriger Arbeit kamen ihm die überzeugungsvollen 
Tiraden nicht, für welche der wortgierige Gallier solche Begeisterung zeigt. Kollegen, Kabinettschefs 
und Zeitungsleute trugen ihm das tatsächliche Material zu, das er dann, die Hände in den Hosen 
taschen, auf der Kammertribüne so glänzend verwandte: Bald als Minister des Innern, der Justiz, 
des Unterrichts, bald als Ministerpräsident. 
Es ist wahr, „Havas" meldet uns, daß Briand sich wieder für einen Famulus gesorgt hat, der 
an seiner Stelle die Arbeit erledigen und die Kenntnisse mitbringen soll: Jules Cambon. Ein 
Name, der zu denken gibt. Er ist aus der Verwaltungslaufbahn hervorgegangen, die er mit dem 
Amt des Generalgouverneurs von Algerien glänzend abschloß, um dann als Botschafter der Repu 
blik nach Washington, später nach Madrid und endlich nach Berlin zu gehen. Er war die unbeach 
tetere Ecke des großen französischen Botschafter-Triumvirats, das sich außer ihm aus seinem ab-, 
gefeimteren Bruder Paul Cambon in London und dem abgefeimtesten aller Einkreisungsbrüder, 
Barröre in Rom, zusammensetzte. Man hat nie behauptet, daß Jules Cambon, einer der eifrigsten 
Deutschenhetzer im Delcasseschen Geschäft gewesen sei. Er sah aus nächster Nähe, daß das Kessel 
treiben gegen den deutschen Kaiser für die Republik selbst nicht ungefährlich werden könnte. Aber 
aus Gelbbüchern erfuhren wir, daß Cambon doch nach Hause berichtete, was man gern von ihm 
hören wollte: daß man scharf rüsten müsse, weil es eine deutsche Kriegspartei gäbe — diese Kriegs 
partei, mit der er den Kronprinzen verstrickte und die bei dem Rüstungsrummel Millerands, Barthous 
und Poincares so erfolgreich ausgespielt wurde, um der eigenen, den französischen Nationalisten und 
Militaristen, zum Triumphe zu verhelfen." 
Herr Jules Cambon ist, so wurde der „Frankfurter Zeitung" (2. XI. 1915) aus Berlin ge 
schrieben, „gewiß ein Mann von staatsmännischem Geist und von Erfahrungen, aber es ist doch charak 
teristisch, daß ein solcher Mann, auch nachdem er fünf Jahre in Berlin war, keinen Satz deutsch 
sprechen und nicht deutsch lesen konnte. Und wenn er auch immer deutschsprechende Sekretäre und 
in manchen der französischen Zeitungskorrespondenten in Berlin gewandte freiwillige Mitarbeiter 
hatte, so ist er doch zu einer intimen Kenntnis deutscher politischer Verhältnisse oder gar etwa deut 
schen geistigen Wesens nicht gelangt. Das kann auch kaum einer, der die Sprache eines großen 
Reiches nicht beherrscht. Herr Cambon hat zum Beispiel an dem Irrtum festgehalten, in dem die 
Franzosen schon befangen waren, als sie den Krieg von 1870 begannen: er hat an Gegensätze 
zwischen Nord- und Süddeutschland geglaubt, die beim Ausbruch eines Krieges hervortreten und 
direkt zu einer Trennung führen würden. Das mag ungeheuerlich klingen, daß jemand im Jahre 
1914 noch geglaubt hat, was sich schon 1870 als ein Irrtum erwiesen hat, aber es ist wahr ...." 
Der Kriegsminister General Gallieni, seit Kriegsbeginn Militärgouverneur von Paris und 
Kommandant der Armee von Paris (vgl. I. S. 298, Bild III vor 277), ist kein Politiker, nur Militär und 
Fachmann. 1849 in St. Beat in der Garonne geboren und in St. Cyr ausgebildet, hat er den größten 
Teil seiner Laufbahn in den Kolonien zugebracht, war 1878 bis 1886 im Senegal, wo er Frank 
reich 1881 das alleinige Handelsrecht am oberen Niger sicherte, wurde 1891, nachdem er kurze Zeit
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.