Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

280 Frankreich während des dritten Kriegshalbjahres 
„Ich muß mich entschuldigen," erklärte er, „daß ich das Wort ergreife, obwohl noch zahlreiche 
Kollegen in die Rednerliste eingeschrieben sind. Ich habe aber Eile, mich über die Tatsachen, die 
vorgebracht worden sind, auszusprechen. Vor acht Tagen, bei der Besprechung des Sanitätsdienstes, 
hat man dem Kriegsminister den Prozeß gemacht. Hierüber muß ich mich erklären. Die Sorge um meine 
Würde sowie das öffentliche Interesse gebieten es. Wenn man gewissen Rednern glauben wollte, 
wären seit dem Tage, an dem ich die schwere Bürde des Kriegsministeriums auf mich geladen, nur 
Nachlässigkeiten und Fehler begangen worden, hätte Sorglosigkeit geherrscht. Ich soll alles haben ge 
schehen lassen, ohne irgend welche Sanktionen vorzunehmen, ich soll der Gefangene meiner Bureaus 
gewesen sein, soll vor dem Oberkommando auf die Ausübung meiner Prärogative und Rechte verzichtet 
haben. Das sind die Sünden, die man gegen mich ins Gericht führt. 
Ich will darauf mit Mäßigkeit antworten, ohne etwas zu sagen, das die Leidenschaften erregen 
könnte. Um das zu tun, brauche ich nur, wie ich es seit zwei Jahren getan, an die zu denken, 
die kämpfen, leiden und sterben. (Beifall auf allen Bänken, außer bei den Radikalsozialisten und 
Radikalen.) Seit acht Monaten habe ich zu wiederholten Malen Gelegenheit gehabt, sei es in der 
Kammer, sei es im Senat, auf die Ergebnisse hinzuweisen, die durch das Hand-in-Handarbeiten 
der französischen Industrie mit den verschiedenen Zweigen des Kriegsbetriebes erzielt wurden. Be 
züglich dieses Punktes genügt es mir, heute hervorzuheben, daß das Vertrauen, das wir hatten, in 
reicher Weise gerechtfertigt wurde. Wir haben mehr erhalten als wir forderten und können heute 
von der Munitionskrise der 75er Geschütze wie von einem schlechten Traum sprechen. Der Ver 
pflegungsdienst läßt nichts mehr zu wünschen übrig. Die Bedürfnisse der Armee wachsen von Tag 
zu Tag; immer neue kommen hinzu, unsere Wachsamkeit muß immer angestrengt bleiben. Toujours 
cPavantage, toujours mieux, das ist unsere Sorge. Wir wären nicht dahin gelangt, wenn sich nicht 
alle Betriebe von Kriegsbeginn an ihrer überwältigend großen Aufgabe mit Eifer unterzogen hätten. 
(Protestrufe auf der äußersten Linken und der Linken.) Mit großem Vertrauen können wir in die 
Zukunft schauen; dazu berechtigt uns die Gegenwart. 
Wie ich schon sagte, sind tatsächliche Fortschritte erzielt worden; warum sollte da gerade der 
Sanitätsdienst eine Ausnahme machen? Ohne auf alle Tatsachen zu antworten, möchte ich eine 
ziemlich präzise Gesamtantwort geben: Die Kriegserklärung überraschte unseren Sanitätsdienst in 
voller Umwandlung. Nur zehn Armeekorps waren mit neuem Material versehen. Wir stießen auf 
zahllose Schwierigkeiten. Aber heute sind wir allen Anforderungen gewachsen. Seit 1913 waren 
250000 Betten vorgesehen, jetzt haben wir 600000. Augenblicklich wird täglich Verbandmaterial 
für 50000 Verbände hergestellt. Die Frage der Fortschaffung der Verwundeten beschäftigt uns ganz 
besonders. In den ersten vierzehn Tagen des Krieges wurden 110 Züge gebildet, gegenwärtig ver 
fügen wir über 170 Züge und 1900 Automobile für den Sanitätsdienst." 
Nach weiteren Erklärungen kam der Kriegsminister auf die Umstände zu sprechen, unter denen er 
sich vom Direktor des Sanitätsdienstes, Dr. Troussaint, trennen mußte. „Als der Unterstaatssekretär 
Godard mir sagte, er sehe die Notwendigkeit nicht ein, an seiner Seite einen Sanitätsdirektor zu 
haben, antwortete ich ihm: Gut, dann werden wir die Talente und die Kompetenz Dr. Troussaints 
anderweitig verwenden! (Lebhafte Protestrufe.) Ich kann die mir von meinen.Mitarbeitern gemachten 
Dienste nicht verkennen, auch wenn einmal hier und da Vorwürfe gegen sie erhoben wurden. Wer 
könnte wohl von sich sagen, daß er keine Irrtümer begangen habe? Ich bemühe mich, für alle ein 
gerechter Chef zu sein. Aber ich bin niemandes Sklave! Sie kennen die Legende, jetzt sollen sie auch 
die Wirklichkeit erfahren. Seit Oktober 1914 habe ich fast alle Chefs im Kriegsministerium gewechselt." 
Die Linke protestiert heftig. Viele Deputierte erheben sich. Der Abgeordnete Albert Favre über 
häuft den Kriegsminister mit Beleidigungen. Dalbiez gerät aus dem Häuschen. Man ruft ihm von 
der Rechten zu: Gehen Sie doch an die Front! Der Präsident Deschanel schwingt die Glocke. 
„Achten Sie das Diskussionsrecht," ruft er, „darauf beruht das Prinzip der Republik!" 
Nachdem die Ruhe wieder hergestellt ist, fährt Millerand fort: „Ich komme jetzt zum Hauptvorwurf, 
der mir gemacht wird. Ich soll mich angeblich ganz in die Hände des Oberkommandos begeben 
haben. Wenn ein Land das Glück hat, an der Spitze seines Heeres einen Führer von unbedingter 
Loyalität zu besitzen (Beifallsstürme), ist es da nicht die Pflicht des Kriegsministers, mit diesem 
Führer nicht allein vertrauensvolle, sondern auch herzliche Beziehungen zu unterhalten? Das wird 
mir um so leichter fallen, als ich General Joffre während eines Jahres zum Mitarbeiter hatte, was 
die Ausübung der Autorität und der Kontrolle erleichtert, auf die ich nicht verzichten könnte, ohne
	        
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