Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Parlament und Regierung 
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sondern noch zuversichtlicher deshalb, weil er sich einbildet, den Sieg nicht aus klein 
lichen, sebstsüchtigen Gründen zu wünschen. Frankreich kann ja nicht untergehen, darf 
nicht untergehen, sonst würde die Welt in Nacht versinken, suhlt er, und mitten in der 
Beklemmung und Herzensangst einer trüben Gegenwart tröstet und stärkt ihn ein leuch 
tendes Zukunftsbild: ewiger Friede, das Reich Gottes auf Erden, wo Vernunft und 
Recht gebieten, das Frankreich von Morgen, das dasteht, größer, herrlicher, ruhm- 
beglänzter, schöner als je, und unter den dankbaren Völkern zu Frankreichs Füßen 
Deutschland, das sich mühsam staubbeschmutzt und blutend aus seinen zerbrochenen 
Sklavenketten erhebt, um — nachdem es gezüchtigt worden ist — von dem edelmütigen, 
gerne verzeihenden Frankreich den Bruderkuß zu empfangen. 
Parlament und Regierung Frankreichs bis 
zur Kriegserklärung an Bulgarien 
Die ordentliche Session des Jahres 1915 III. 
Vom 10. bis 26. August 1915 
Der Ansturm gegen den Kriegsmini st er Millerand 
Der Konflikt zwischen dem Parlament und der Regierung bestand schon seit dem 
Winter 1914/1915. Er ist an die Oberfläche gekommen, als Millerand sich entschließen 
mußte, sich den sozialistischen Abgeordneten Thomas als Unterstaatssekretär an die Seite 
stellen zu lassen. Bald darauf verlangte die Regierung, um die Zusammenstöße zwischen 
Millerand und den Kommissionen zu vermindern, zwei weitere Unterstaatssekretäre für 
das Sanitätswesen und die Verproviantierung (vgl. VII, S. 268). Die Ausgaben 
für diese beiden Aemter sollte die Kammer am 12. August 1915 genehmigen, um dann 
nach den Wünschen der Regierung einen Monat Ferien zu nehmen. Unterdessen hatten 
sich aber Dinge ereignet, die die Kammer von neuem beunruhigten und mit Mißtrauen 
gegen Millerand erfüllten. Millerand hatte aus den Vorschlag des Generalissimus Joffre 
den Armeekommandanten Sarrail zur Disposition gestellt (vgl. VII, S. 253) und hatte 
außerdem die Zensur über die Soldatenbriefe verhängt, ohne vorher die Genehmigung 
des Ministerrats einzuholen, wozu er aus Rücksicht auf die politische Tragweite beider 
Maßregeln verpflichtet gewesen wäre. Das erschöpfte die Geduld der Linken des Parla 
ments; die radikal-sozialistische Parlamentsfraktion drohte dem Ministerpräsidenten 
Viviani, daß sie gegen die Kredite für die neuen Unterstaatssekretariate stimmen müßte, 
falls Millerand an der Spitze des Kriegsministeriums verbleibe. 
Aber auch innerhalb der Regierung herrschte eine schwere Krisis. Der Berichterstatter 
der „Tel. Union" erfuhr darüber nach Mitteilungen des „Schwäbischen Merkurs" 
(14. VIII. 15) aus Paris folgendes: „Zwischen den einzelnen Kabinettsmitgliedern, und 
zwar besonders zwischen Millerand und Delcasse, herrschen tiefgehende Meinungs 
verschiedenheiten, die nur mühsam durch die eindringlichen Vorstellungen des Minister 
präsidenten Viviani überbrückt werden konnten. Millerand ist aufs tiefste verärgert 
durch die andauernd gegen ihn gerichteten Presseangriffe, als deren indirekten Urheber er 
nicht zu Unrecht seinen alten Widersacher Delcasse bezeichnet. Es kommt hinzu, daß das 
Ausbleiben der so häufig angesagten Offensive gleichfalls auf den lähmenden Einfluß 
zurückgeführt wird, den des Kriegsministers Kleinmut auf den Generalissimus Joffre 
ausübt. Die Nervosität und Unruhe, die sich aller parlamentarischen Kreise, besonders 
seit der Katastrophe in Polen (vgl. IX, S. 87 ff), bemächtigt hat, ist unbeschreiblich; 
die Atmosphäre in Paris im höchsten Grade gewitterschwül. In der Sitzung der 
Munitionskommisston vom 7. August 1915, dem Tag vor Warschaus Fall, wurden von
	        
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