Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

276 Frankreich während des dritten Kriegshalbjahres 
Wilde, Sieger, die mit Schande beladen, gesenkten Hauptes heimziehen müßten. Und 
als ob Paris vernichtet werden könnte, als ob nicht die Seele von Paris leuchtend 
weiterstrahlte, auch wenn man in den Straßen und Häusern Stein um Stein nieder 
risse und verbrennte, als ob nicht aus jedem Körnchen ihrer Asche, in den Winden 
verstreut, Saat der Zukunft würde? Und ein Franzose mag vielleicht manches an 
diesem hochtrabenden Aufruf, der in Deutschland nur Zorn oder Hohngelächter aus 
gelöst hat, naiv und lächerlich finden, vor allem die Anmaßung Hugos, der in der Ver 
bannung gelernt hatte, sich als eine Art Laienpapst zu betrachten, als internationale 
Großmacht, die mit den anderen Mächten auf gleichem Fuß verkehrt — aber die Ueber 
zeugung, die in V. Hugo glüht, daß ein Angriff auf Frankreich und Paris ein Ver 
brechen ist, die wird jeder seiner Landsleute teilen. 
Und endlich die dritte Folgerung, die die ungeheuerlichste scheint: Wer sich gegen 
Frankreich erhebt, handelt nicht bloß undankbar und frevelhaft gegen die Menschheit. 
Er handelt auch dumm, gegen sein eigenes Interesse; er schneidet sich selbst ins Fleisch. 
Und Frankreich erweist ihm eine Wohltat, indem es ihn besiegt. Frankreichs Sieg 
bedeutet ein Glück für ihn, wenn er auch im Augenblick zu besangen und beschränkt ist, 
um das zu verstehen. So war es ein Glück für die russischen Bauern, die 1799 mit 
den Oesterreichern zusammen gegen die französischen Truppen unter Masssna fochten, 
daß sie besiegt wurden; denn nur dem französischen Sieg verdankte es der russische 
Bauernstand, daß sechzig Jahre später das Joch der Leibeigenschaft von ihm genommen 
wurde *2). Und so wäre es auch ein Glück für Deutschland, wenn es von Frankreich 
besiegt würde. „Ce8t pour rAllemagne qu’il saut relever la France ,“ wie wiederum 
V. Hugo verkündet^). „Nur eine Aufgabe liegt heute vor uns; eine einzige. Welche? 
Frankreich wieder aufrichten. Frankreich wiederaufrichten. Für wen? Für Frankreich? 
Nein. Für die Welt. Man zündet nicht eine Fackel wieder für die Fackel an. Man 
zündet sie für die an, die in der Nacht sind, für die, die ihre Hände in der Höhle aus 
strecken, um die unheilvolle Mauer des Hindernisses abzutasten, für die, denen der Führer 
fehlt, der Lichtstrahl, die Wärme, der Mut, die Gewißheit des Weges, die Anschauung 
des Zieles. .. Man zündet die Fackel wieder an gerade für den, der sie auslöschte 
und der sich, indem er sie auslöschte, blind gemacht hat; für Deutschland gilt es Frank 
reich wieder aufzurichten. Ja, für Deutschland. Denn Deutschland ist der Sklave, und 
von Frankreich wird ihm die Freiheit zurückgegeben werden." Und das ist keine ver 
einzelte Stimme, dutzende und aberdutzende Male sind drüben solche Gedanken seit dem 
August 1914 entwickelt worden, und das sind auch keine heuchlerischen Phrasen, sondern 
Gedanken aus denselben Meinungen und Urteilen heraus geboren, aus denen europäische 
Staaten einem barbarischen Negerstamm zu seinem Heil die Aeußerlichkeiten unserer 
Kultur und des Christentums mit Peitsche und Maschinengewehren aufzwingen. Deutsch 
land muß kolonisiert werden, und was kümmert es, wenn Deutschland dabei verwüstet 
wird, wenn es in den Greueln des Krieges Menschen, Länder und seine Unabhängigkeit 
verliert — alles geschieht nur zu seinem Besten, und wenn es erst durch französischen 
Einfluß innerlich frei geworden, veredelt, zur Gesittung und Erkenntnis des Wahren 
vorgedrungen ist, wird es Frankreich segnen. 
III. 
Wir können, wenn wir derlei hören, lächeln oder uns ärgern, können von Größen 
wahnsinn und völliger Geistesverirrung reden. Aber der Franzose denkt so, und er 
wird nicht leicht zum Umdenken zu bewegen sein. Er hofft aus seinen Sieg, nicht bloß, 
weil ihm die Erinnerung an Frankreichs glorreiche Vergangenheit Vertrauen einflößt, 
w ) Nambaud, Hist, de la Civilisation contemp. S. 13. — ") 1871. Actes et paroles. Depuis l’exil. I 232 f.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.