Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

Wie die Franzosen sich im Spiegel sehen 275 
II. 
Die erste Folgerung ist die: die ganze Menschheit schuldet Frankreich Dank, unend 
lich mehr Dank, als sie je abstatten könnte. Wer Frankreich huldigt und dient, tut 
nur seine Pflicht wie ein Garibaldi und die Legionen von fremden Freiwilligen aus 
Italien, Belgien, Polen, Irland, Griechenland, der Schweiz usw., die in den verschie 
denen Kriegen seit der Revolution in Frankreichs Reihen kämpften. Wer Frankreich 
nicht huldigt und dient, handelt pflichtvergessen. Wer nicht zu ihm hält, wer ihm nicht 
beisteht, wenn es bedrängt wird, zeigt abscheuliche Undankbarkeit. Das ist eine Empfin 
dung, die besonders in Zeiten nationaler Not und Gefahr den Franzosen erfüllt und 
ihm dann wehleidige oder entrüstete Klagen über die Verworfenheit des Menschen 
geschlechts entlockt, sentimentale Variationen über das Thema: Undank ist der Welt 
Lohn. Was hat denn nur Frankreich verbrochen, Frankreich, das allen wohlwill und 
dem alle übelwollen, Frankreich, das alle liebt und dem alle die Liebe mit Haß ver 
gelten? So klingt es erstaunt und bitter heute in die neutralen Länder und genau so 
klang es 1870/71. So klingt es z. B. in dem vorwurfsvollen Hilferuf, den Michelet 
in seiner Broschüre „La France devant l’Europe“ (Januar 1871) ausstieß, um das von 
bismarckischem Gold eingeschläferte Gewissen der Welt wachzurütteln. Wie, die Deut 
schen wagen es, Frankreich gemein und tückisch zu überrumpeln, das wehrlose Frank 
reich niederzuschlagen und zu vergewaltigen, und niemand rührt sich, niemand mischt 
sich ein, Europa und Amerika lassen herzlos und feig mit verschränkten Armen so uner 
hörte Freveltat vollenden! Die französische Nation, die Erlöserin der Menschheit, wird 
zur Märtyrerin, die, Jesu Dornenkranz im Haar, beschimpft und bespieen, von rohen 
Henkersknechten mißhandelt, ihr Golgatha erklimmt, so wie V. Hugo es prachtvoll in 
seinem Gedicht „A la France“ ausmalt^). 
Wer aber (und das ist die zweite Folgerung) so weit geht, sich an Frankreich zu 
vergreifen, der handelt nicht anders als ein Kind, das sich an seinen Eltern vergreist. 
„Ein Volk kann Frankreich nicht angreifen, ohne Vatermörder zu sein," erklärt Victor 
Hugo 8 ), und das sagt er nicht bloß einmal, und so denkt nicht bloß er. „Heute herrscht 
düsterer und dumpfer Haß (schreibt 1874 an den in Genf tagenden Friedenskongreß 
derselbe £>ugo 9 ), den man immer wieder anführen muß, weil kein Franzose so beredt, 
so wortreich und pathetisch wie er seinen Patriotismus und Nationalstolz, die Selbst 
verherrlichung in eindringliche Sätze zu prägen verstand). Haß aus einer Ohrfeige ent 
standen. Wer ist geohrfeigt worden? Die ganze Welt. Wenn Frankreich ins Gesicht 
geschlagen wird, steigt die Röte aus die Stirn aller Völker. Die Schmach ist der 
Mutter angetan worden; daher der Haß." Wer sich an Frankreich versündigt, ver 
sündigt sich an der Menschheit, an allem, was gut, schön und erhaben ist. Und wenn 
er es gar wagt, Paris anzutasten, so tastet er nicht eine Hauptstadt an wie London 
oder Berlin oder Wien oder Rom oder Madrid, sondern den Mittelpunkt und das 
Heiligtum der Zivilisation selbst. „Die Elenden, Paris beschießen sie," schreit in einem 
Kriegsroman Daudets der Held, als die deutschen Kanonen vor Paris donnern *°), und 
das Entsetzen, der Ekel vor so schwarzer Ruchlosigkeit, der sich hier äußert, ist ganz 
echt. Aus Paris erläßt V. Hugo am 9. September 1870 seinen berühmten Aufruf an 
die vordringenden Deutschen; er will versuchen, ihnen noch einmal Vernunft zu pre 
digen; es ist eine Warnung in letzter Stunde u ). Wäre es möglich? Deutschland sollte 
Europa zerstören wollen, indem es Paris vernichtet? Paris, die Stadt, in der Europa 
lebt und die den Deutschen ebenso gehört wie den Franzosen, die Stadt, die unschuldig an 
diesem Krieg ist und die euch nichts getan hat als Klarheit zu schenken? Da wäret ihr ja S. 
?) L’annee terrible. Nelsonausgabe. S. 104 f. — 8 ) Actes et paroles. Depuis l'exil. Nelson ausgäbe I 384. — 9 ) Ebenda 
S. 333. — 10 ) Robert Helmont. — ") Actes et paroles. vepuis I'exil. 158 ff.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.