Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

274 Frankreich während des dritten Kriegshalbjahres 
Hugo, einen Proudhon, einen Renan, einen Lamarck, einen Lavoister, einen Pasteur, 
alle erstehen unter Frankreichs Himmel. Aus Frankreich stammt die Bibel der Auf 
klärung, die Enzyklopädie, und in Frankreich ist die Trennung von Kirche und Staat 
vollzogen worden. Aber solange der Welt das Christentum not tat, war Frankreich 
sein Schützer und Vermittler, und für die, die lieber am alten Gängelband weiter 
tappen, bleibt es auch in der Gegenwart trotz der vatikanischen Bannstrahlen das 
katholische Frankreich der Lourdeswunder und des heiligen Herzens Jesu, dem hoch über 
Paris die riesige Sühnekirche aus dem Montmartre geweiht ist. Rom hat einst das 
Erbe von Hellas angetreten; Frankreich hat Rom und Hellas beerbt. An Frankreich 
ist es, über die Menschen zu herrschen, um seine Mission zu erfüllen. 
Die Gleichsetzung: Frankreich — Zivilisation — Menschheit ist jedem Franzosen ge 
läufig. Aus ihr leitet er den sittlichen Anspruch auf die Vormachtstellung ab, auf 
Frankreichs Ausdehnung innerhalb seiner natürlichen Grenzen oder über sie hinaus. 
In einem lateinischen Traktat von 1323 heißt e§ 4 ): „Die monarchische Regierung des 
ganzen Weltalls gebührt den sehr erlauchten und erhabenen Königen von Frankreich, 
zum mindesten kraft des Rechtes eines angeborenen Dranges nach dem Besseren hin, 
ex nativae pronitatis ad melius jure. Dreihundert Jahre später, zur Zeit Richelieus, 
erhofft Chantereau-Lefövre von der Wiedererrichtung der Grenzen des alten Galliens, 
die Beruhigung Europas^). „Die Wiedererrichtung dieser Grenzen (schreibt er in den 
„Considerations historiques sur la genealogie de la Lorraine“) verschafft nicht bloß 
Frankreich einen ehrenvollen und sicheren Frieden, sondern der ganzen christlichen Re 
publik, welche seit hundertvierzig Jahren durch diejenigen aufgewühlt worden ist, die 
zum Schaden der fränkisch-gallischen Krone eine Reihe schöner und wichtiger Staaten 
überfallen haben und nun sich bemühen, den Rest zu rauben." Und wieder zweihundert 
Jahre später schreibt V. Hugo in der Schlußbetrachtung von „Le Rhin“, wo er seine 
Ansichten über die Umgestaltung Europas entwickelt, das linke Rheinufer und dann ein 
Bündnis mit Deutschland fordert 6 ): „Europa kann nicht Ruhe haben, ehe nicht Frank 
reich zufrieden ist." Uns klingt ein solcher Satz monströs anmaßend und eigensüchtig. 
Dem Franzosen klingt er selbstverständlich und durchaus menschenfreundlich. Denn für 
ihn rechtfertigt sich die alte Eroberungslust seines Volkes durch die Weltbeglückungs 
träume, mit denen sie verquickt ist. Für ihn bedeutet die Unterwerfung fremder Völker 
unter Frankreichs Herrschaft ihre Befreiung, weil die Sache Frankreichs für ihn eins 
ist mit der Sache der Menschheit, und weil es desto besser um die Menschheit stehen 
wird, je mehr Menschen Frankreich ihr Vaterland nennen dürfen, das ohnedies das 
zweite, das geistige Vaterland eines jeden ist. 
Seit Ausbruch des europäischen Krieges hören wir wieder so viel aus dem Munde 
französischer Staatsmänner, Heerführer, Abgeordneter, Zeitungsschreiber und anderer 
Patrioten, was uns unsagbar verblüfft, manchmal Gedankengänge, die dem unvor 
bereiteten Deutschen so widersinnig, toll und frech verlogen erscheinen müssen, daß er 
sich fragen kann, ob das Volk, das drüben jenseits der deutschen Schützengräben haust, 
ein Volk von Narren oder ein Volk von Heuchlern ist. Keines von beiden. Die Ge 
dankengänge sind ernst gemeint, das Gefühl, dem sie entspringen, ist aufrichtig. Wen 
es reizt, sie zu begreifen, der braucht sich nur über die Voraussetzungen klar zu werden, 
auf denen sie sich aufbauen, der braucht sich nur einen Augenblick lang in die Seele 
eines Franzosen zu versenken und durch seine Brille Frankreich und die ftanzösische 
Vergangenheit zu schauen. Wenn die Auffassung gegeben ist, die der Franzose von 
Frankreich hat, der blinde Glaube an Frankreichs Sendung in der Welt, ist es durch 
aus logisch und vernünftig, die Schlußfolgerungen zu ziehen, die der Franzose zieht. 
4 ) Sorel, L’Europe et la revolution frangaise. 1251. — B ) Sorel I 275f.— 6 ) Nelsonausgabe. II 385.
	        
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