Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

116 Die Ereignisse an der We st front im dritten Kriegshalbjahr 
Das „Totenwäldchen" 
Einem Mitkämpfer nacherzählt. 
Im Kampfgebiete aus Frankreichs Erde sind alle Wälder tot. Der Krieg hat sie 
gemordet. Monatelang hat ein Orkan von Flammen und Eisen sie durchbraust, hat sie 
zerhackt, zerfetzt, versengt und verbrannt. Nur leblose, nackte Bäume, von denen jeder 
Hunderte von Wunden trägt, ragen noch gen Himmel, und da und dort hängen an ihrem 
kahlen Geäst zerfetzte, blutgetränkte Uniformstücke, die eine Granatexploston dorthin ge 
schleudert hat. Wenn sie erzählen könnten, diese toten Wälder, welch Fürchterliches, 
Entsetzliches sich in ihnen abgespielt und zugetragen hat in all den Schreckenstagen dieses 
mörderischen Krieges — es wäre ein Bekenntnis, wie es schauervoller noch keines Menschen 
Ohr vernommen hat. Denn auf dieser Lawinenbahn des Todes und der Vernichtung haben 
unsere Soldaten gegen einen Feind angehen müssen, der sich mit zäher Kraft und Ausdauer 
an jeden Erdhaufen anklammerte, haben ihm im Nahkampfe Labyrinthe von Lauf- und 
Schützengräben entrissen, die oft zu Massengräbern für Freund und Feind geworden 
sind. Die Szenen, die sich dabei abgespielt haben, glichen häufig keinem Kampfe mehr 
im eigentlichen Sinne des Worts, es war ein Ringen, ein Würgen und Morden in 
kompakten Massen, Mann gegen Mann, Leib an Leib, wobei vielfach die Waffen über 
flüssig geworden waren. Wer sich ihrer entledigt hatte, oder wem sie entfallen waren, 
hob ein Beil, ein Stück Eisen von einer Granate, einen Stein, ganz gleich was, vom 
Boden, zum Zuschlagen, und manch ganz Waffenloser warf sich dem Gegner mit den 
Fäusten an die Kehle und biß wütend auf ihn ein. Erstickte Schreie, Flüche, Todes 
röcheln — und Leichen, wohin der Fuß tritt. 
In diesem Kampfgebiete befindet sich eine Waldparzelle, an der vorüberzugehen schon 
eine Heldentat ist. Ungeheure Mengen von Waffen und Ausrüstungsstücken liegen in 
ihr herum und Massen von französischen Toten, die nicht beerdigt werden können, weil 
die lebenden Kameraden auf der anderen Seite es nicht zulassen; denn sobald nur der 
Kops eines deutschen Soldaten in der Nähe des Wäldchens sich blicken läßt, verschießen 
die Franzosen oft Dutzende von Granaten nach ihm. 
Am Rande dieses Wäldchens kauert an einem Graben ein französischer Infanterist, beide 
Arme aus die Kniee, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrt vor sich hin. In einem 
Augenblicke des Schmerzes, des Schreckens oder der Verzweiflung vielleicht, da er sich hier 
niedersetzte und das Gesicht in die Hände vergrub, hat ihn die tödliche Kugel in dieser 
Stellung erreicht, und in ihr muß er nun — ein Bild des Schreckens — verharren — 
nur wird er von Tag zu Tag kleiner, schmaler und sinkt immer mehr in sich zusammen. 
Nicht weit von ihm steht ausrecht starr und steif an einem dicken Baum ein großer 
Franzose und stiert mit offenen, verglasten Augen geradeaus. Offenbar hatte er hinter 
dem Baume Schutz und Deckung vor dem furchtbaren Feuer der deutschen Granate» 
und Maschinengewehre gesucht, und als er tödlich getroffen zusammenzuckte, hakten sich 
seine Kleider oder sein Riemenzeug an einem abgebrochenen Aste fest, so daß er nicht 
zu Boden sinken konnte, sondern aufrecht stehend den Tod erleiden mußte. So steht 
er wohl jetzt noch, von dem Baumaste festgehalten, das Gewehr in der Knochenhand, 
als müßte er Totenwacht halten über seine zahlreich umherliegenden Kameraden. 
Dies Gehölz, in dem das Grauen wohnt, wird von uns das „Totenwäldchen" 
genannt. Jedes lebende Wesen der Natur meidet diesen mit Leichen übersäten Boden, 
kein Vogel ist mehr dort sichtbar, alles Wild hat seine Schlupfwinkel verlassen und ist 
dem Hauche des Todes und der Verwesung entflohen. 
Wer aber von uns zuweilen auf nächtlicher Schleichpatrouille an diesem Orte des 
Schreckens vorbeigehen mußte, verrichtete, von heimlichem Grauen erfaßt, ein Stoß 
gebet für all die Toten, die hier noch eines ehrlichen Soldatenbegräbnisses harren.
	        
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